Das Sperma der Götter

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In England blüht die Tradition der Druiden wieder auf. Unser Autor Sebastian Hesse hat einige von ihnen besucht, um herauszufinden was der ganze Hokuspokus um Bäume, Misteln und Steinkreise soll.

Allzu viel Phantasie braucht man nicht, um sich vom Glastonbury Tor aus eine Inselwelt herbeizu(tag)träumen. Zahlreiche Hügel haben die radikale Kultivierung der Landschaft in der Grafschaft Somerset überstanden. Früher, so erklärt es mir Pat Mead, sei die Gegend regelmässig überschwemmt worden. Feuchtes Marschland, das große Teile des Jahres unter Wasser stand. Die Hügel jedoch hätten aus der Wasserfläche heraus geragt. Sie seien zu Inseln geworden. Und, wie so oft im südenglischen Nebel, nur noch schemenhaft zu erkennen gewesen. Hier entstand einst die Legende von Avalon. Jener mythischen Insel, auf der das irdische Leben des Sagenkönigs Artus endete. Die Apfelinsel, wie die Kelten sie nannten. Pat jedoch erzählt die Geschichte anders. Für Pat liegt hier tatsächlich Avalon. Bis heute. Wegen Avalon ist sie einst nach Glastonbury gezogen. Denn Pat Mead ist Druidin.

In England berichten Menschen mit einer spirituellen Ader häufig über ihre prägende Begegnung mit einem Ort. Die Zuneigung für einen Landstrich wird gerne schwärmerisch verklärt. Landbewohner in England ziehen ein Lebensgefühl aus der Geographie, die sie umgibt. Sie verspüren eine intensive Verbundenheit mit natürlichen Orten: Achtung, Tiefe. Das hat mit der Schönheit unberührten Landes zu tun, seinen Farben und Gerüchen. Aber auch mit dem, was Menschen mit entsprechendem Sensorium in diese Landschaften hineinlesen können. Was sie an Mythologie dechiffrieren an Orten, zu denen sie sich intuitiv hingezogen fühlen. An solchen Orten überlappen sich geographische und mythische Landschaften. Nach keltischem Glauben existieren an bestimmten Orten Übergänge zwischen der Menschenwelt und der Anderswelt.

Für König Artus

Diese instinktive Verbundenheit mit einem Landstrich war es, die Pat Mead einst nach Glastonbury gebracht hat. „Ich bin wegen Artus zum ersten Mal hierher gekommen“, erzählt sie mir. „In einem Buch hatte ich ein Bild vom Glastonbury Tor gesehen. Und eine innere Stimme sagte: Geh da hin! Das haben wir dann auch gemacht, mein Mann und ich. Sind hierher gezogen!“ Ursprünglich stammt sie aus den britischen Midlands bei Birmingham. Einer spontanen Eingebung folgend verlagerte sie mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann ihren Lebensmittelpunkt an den Fuß des Glastonbury Tors. Über Nacht brachen sie ihre Zelte ab, um einem merkwürdigen Sog gen Westen zu folgen.

Pats Bungalow hat wenig gemeinsam mit den urigen Cottages des ländlichen Englands. Er ist modern, funktional, eher einfach und schmucklos. Auch die Einrichtung läßt nicht darauf schließen, dass hier jemand mit ausgeprägt spirituellem Sensorium lebt. Pat und ich sitzen in ihrem kleinen Wohnzimmer, auf einer Sofagarnitur, die bessere Tage gesehen hat. Wir trinken Tee und beobachten die Dachse, die auf ihrer kleinen Terrasse nach Leckerbissen suchen. Pat hat als junges Mädchen Deutsch gelernt und hört heute noch regelmässig deutsche Radiosendungen. Sie spielt im Verein Tischtennis. Und Theater in einer Laienspieltruppe. Und sie engagiert sich in ihrem druidischen Grove. Grove, Hain, nach den heiligen Hainen der heidnischen Priester. So nennen sich die Ortsgruppen der druidischen Orden. Der in Glastonbury nennt sich Appleseed Grove.

Lebendiger Mythos

So unscheinbar ihr Haus, so spektakulär ist die Lage ihres Grundstücks. Ein Hohlweg führt vom Chalice Well Garden den Hügel hinauf zu Pat. Wenn man ihn zu Ende läuft, steht man am Fusse des Tor. Mehrfach am Tag schaut sie hoch auf den magischen Hügel. Hinauf zu dem geheimnisvollen Turm auf seinem Gipfel. Die erhabene Szenerie bestärkt sie immer wieder aufs Neue darin, dass der Umzug nach Glastonbury zwangsläufig und alternativlos war. Der alte Mythos ist für Pat sehr lebendig: „Oh, er lebt, ja! Vor allem, wenn ich von Westen her nach Glastonbury hereinkomme. Da fährt man über eine bestimmte Brücke, die Pomparles Bridge. Früher war hier ein großer See, den der Fluß Brue gespeist hat. Das soll der See der ‚Lady of the Lake’ gewesen sein, die Artus das Schwert Excalibur gab. Daran muss ich immer denken, wenn ich über die Brücke fahre: Das ist wie nach Hause kommen. Ich bin zurück in Avalon und ich bin in Sicherheit!“

Dieses besondere Gespür für die Magie eines Ortes ist auf den britischen Inseln bemerkenswert ausgeprägt. In seltsamem Kontrast zum beinahe völligen Verschwinden von Wildnis und unberührter Natur in den englischen Grafschaften. Adrian Rooke ist wie Pat Mitglied des größten britischen Druidenordens, des Order of Bards, Ovates and Druids, kurz OBOD. Ich besuche ihn in Bristol. Dort wohnt der Sozialarbeiter im Gartenhaus auf dem Grundstück seines Sohnes. Adrian entspricht viel mehr als die pensionierte Lehrerin Pat meinen Vorstellungen von jemandem neuheidnischen, naturreligiösen Glaubens.

Schamanischer Steinkreis

Adrian trägt sein angegrautes Haar lang, ist über und über mit tribal tatoos bedeckt. Er schmückt sich mit Amuletten, Ohrringen und allerhand anderem Schmuck, den er teilweise selber hergestellt hat. Ein gewaltiges Bett füllt das Wohn- und Schlafzimmer in seinem Gartenhaus fast völlig aus. Für Adrian ist es weit mehr als nur eine Schlafstätte. Hier meditiert er, liest dicke Wälzer über Glaube, Leben und Rituale seiner Ahnen. Hier schnitzt er die Zauberstäbe, die er auf Druidentreffen verkauft. Handschmeichler sind Adrians hölzerne Fetische. Und obendrein sollen sie Glück bringen. Adrian hat Suppe gekocht. Nach dem Essen nimmt er mich mit zu einem Steinkreis in der Nähe von Bristol. Zu einer Art schamanischer Séance.

Tags drauf fahre ich mit Adrian und seinem Freund Jay-Jay auf eine Apfelfarm auf dem Lande, irgendwo zwischen Bristol und Glastonbury. Die beiden haben mich eingeladen an einer jährlichen Zeremonie teilzunehmen, die ihnen heilig ist. Und zu der sie noch nie einen Außenstehenden mitgenommen haben. Wir gehen Misteln schneiden. In den Baumkronen der Apfelbäume wächst und gedeiht die heilige Pflanze der Druiden besonders üppig. Der Apfel-Farmer ist froh, dass ihm jemand den Parasiten dezimiert. Und Adrian und Jay-Jay machen reiche Beute für die bevorstehende Wintersonnenwendfeier ihres Druidenordens.

Auf dem Farmgelände steigt Adrian mit einer Leiter in die Baumkronen, sägt die Mistelzweige ab und wirft sie mit Bedacht vom Baum. So, dass JJ sie auffangen kann. Damit sie nicht den Boden berühren. „Die Mistel ist eine einzigartige Pflanze. Weil sie keine Wurzeln hat, die sie mit der Erde verbinden“, erklärt mir Adrian. „Misteln sind Himmelspflanzen, Sonnenpflanzen.“

Göttliches Sperma

Er zerdrückt die weißen Beeren der Mistel in seiner Hand. Und hat die klebrige Masse daraus zwischen den Fingern. Die erinnert an Sperma. „Unsere Ahnen haben geglaubt, es handele sich um das Sperma der Götter“, sagt er, „das mitten im Winter das Land neu befruchtet.“ Und JJ ergänzt: „Die alten Druiden haben die Mistel besonders verehrt, wenn sie in den Kronen der Eichen wuchs. Die Eiche galt als Baum der Sonne. Bei der rituellen Mistelernte wurde der Samen der Sonne wieder mit der Erde verbunden.“ Darum sei die Mistel ein Symbol für die Wiedergeburt zur Wintermitte. Die Rückkehr der Sonne. „Deshalb küsst man sich heute noch unter dem Mistelzweig“, schmunzelt JJ, „weil dieses Ritual etwas Lebensbejahendes hat!“

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JJ, Adrian und ich laden die frisch geschnittenen Mistelzweige in den Kofferraum von Adrians klapprigem Toyota. Am Abend werden die beiden den Versammlungsraum für das Druidentreffen mit den heiligen Pflanzen dekorieren. „Das verbindet uns mit diesem Land und dieser Jahreszeit“, sagt Adrian Rooke bevor wir abfahren. „Und es verbindet uns mit etwas sehr Altem, das seit Jahrtausenden verehrt wird!“ Diese Verbundenheit mit Natur und Geschichte, so viel habe ich bereits begriffen, ist die zentrale Erfahrung im modernen Druidentum.

Ritual in der längsten Nacht

Beim Morgengrauen des nächsten Tages stehe ich dann, am Ende der längsten Nacht des Jahres, zu Sonnenaufgang im Chalice Well Garden in Glastonbury. Es liegt noch Frühnebel über der Gartenanlage am Fusse des Tor, wenige Fussminuten von Pat Meads Haus entfernt. Nur schemenhaft sind die Teilnehmer des Rituals zu erkennen, mit dem die Rückkehr des Lichts begrüßt werden soll. Rund hundert Neo-Druiden würdigen am kürzesten Tag des Jahres mit ihrer Zusammenkunft den ewigen Kreislauf der Natur. Den verläßlichen Wechsel von Finsternis und Absterben zu neuem Licht und Leben. Ein Grossteil der Druiden trägt ein langes, mönchsähnliches Gewand aus grobem, ungefärbtem Leinen. Verziert allenfalls mit Fibeln oder Broschen in keltischem Ornament. Ein großer Kreis wird gebildet. In der Mitte steht Ann-Marie, die das Ritual anleitet.

Ann-Marie trägt bei der morgendlichen Kälte eine Pelzmütze und einen langen, grünen Samtüberwurf. Wie Pat hatte auch sie ein Erweckungserlebnis in der Natur, das sie für das Druidentum empfänglich machte. „Das war in Cornwall“, erzählt sie mir, „dort gibt es noch Ecken, die vom Menschen unberührt scheinen. Das Bodmin Moor etwa. Dort konnte ich die Seele der Erde spüren!“ Seither geht es ihr nach eigener Aussage darum, “am kosmischen Tanz teilzunehmen.“ Dieses Grundgefühl begleitet sie inzwischen längst durch den Alltag: „Wenn ich morgens die Augen öffne, dann ist da dieser kurze Moment, bevor man ganz wach wird. Als wenn man dem ganzen Universum einen guten Morgen wünscht!“

Zur Sonnenwende begrüßt Ann-Marie die Mitglieder des größten britischen Druidenordens. Um mit ihnen das Wiedererwachen der Natur zur Halbzeit ihres winterlichen Tiefschlafs zu begehen. Dieses Ritual ehrt ein zyklisch wiederkehrendes Naturereignis, spiegelt den natürlichen Kreislauf, betont sie. Es geht in der Zeremonie um das scheinbar absterbende Licht, seine Wiederkehr, das Schneiden der Mistelzweige, die heute noch in Großbritannien zur Weihnachtszeit gehören wie der Christbaum. In jeder der vier Himmelsrichtungen verkörpert je ein Druide den Norden, den Süden, den Westen, den Osten. Die vier Himmelsrichtungen haben in der druidischen Naturverehrung eine ähnlich große Bedeutung wie die vier Elemente oder die vier Jahreszeiten.

Das Licht, das sich am kürzesten Tag weitgehend zurückgezogen hat, wird durch eine Kerze in einem sturmfesten Leuchter versinnbildlicht. Die Kerze erlischt und wird sogleich wieder entzündet. So wie das das Licht im Frühjahr zurückkehrt, stärker wird, länger die Natur erhellt und diese allmählich aus dem Winterschlaf zurückholt. Um diesen Prozess des Absterbens und Neuerwachens, des Regenerierens in der Dunkelheit, des neuen Lebens, das dem abgestorbenen Alten verlässlich folgt, geht es in dem Ritual.

„AAAWWWEEENNN!!!“

AWEN intonieren die Druiden von Glastonbury stimmgewaltig aus vielen Kehlen. Es klingt wie ein Urlaut, dem buddhistischen OM nicht unähnlich. Der ganze Körper vibriert, wenn man das keltische Wort AWEN möglichst langgestreckt singt. Es entsteht eine Schwingung, eine Art Ur-Rhythmus, der die Ritual-Teilnehmer in Gleichklang mit ihrer natürlichen Umwelt bringen soll. AWEN ist nicht nur das Mantra, sondern auch das graphische Symbol des Druidenordens. Und bedeutet so viel wie ‚die drei Lichtstrahlen’. Viele Druiden tragen das AWEN-Symbol als Brosche oder Amulett. Es zeigt drei Lichtpunkte, aus denen drei Lichtstrahlen fallen, umrahmt von drei konzentrischen Kreisen. Die Lichtpunkte symbolisieren Sonnenaufgänge. In, je nach Jahreszeit, leicht unterschiedlicher Himmelsrichtung. Und die Kreise stehen für die drei Zirkel der Schöpfung in der keltischen Mythologie. Intoniert wird das AWEN bei jeder neo-druidischen Zusammenkunft, als fester Bestandteil jedes neo-druidischen Rituals. Ebenso wichtig ist der ‚Sacred Vow’: „We swear by peace and love to stand, heart by heart and hand to hand. Mark, oh Spirit, and hear us now, confirming this, our sacred vow!“ Wie das ‚Vater unser’ zum christlichen Gottesdienst gehört dieser Schwur zu jeder druidischen Zusammenkunft. Aber wie authentisch sind diese modernen Zeremonien? Wie stark wurzeln sie in wahrhaft uralten Traditionen?

Es gibt da nämlich ein Dilemma. Von den historischen Vorbildern der Neo-Druiden, der vorchristlichen Priesterkaste der keltischen Hemisphäre, ist eigentlich recht wenig bekannt. In einem der uralten Wirtshäuser von Glastonbury treffe ich eine Koryphäe auf diesem Gebiet: Den Historiker Ronald Hutton. Der Geschichtsprofessor aus Bristol entspricht kaum den gängigen Vorstellungen von einem Hochschullehrer und Wissenschaftler. Hutton trägt das dünne Haar mehr als schulterlang. Seine dicke Brille scheint einige Nummern zu groß für einen schmächtigen Mann wie ihn. Sein listiges Blinzeln entgeht mir jedoch nicht, als er mich über einem Pint Ale freundlich angrinst. Und zunächst einmal desillusioniert: „Die Quellenlage zu den Druiden ist mehr als dürftig“, sagt Hutton, „alle zeitgenössischen Quellen stammen aus griechischer oder römischer Feder. Und man könnte sie locker auf sechs Seiten abdrucken!“

Die keltischen Priester verfügten nicht über eine eigene Schriftkultur. „Etwas mehr findet sich in der mittelalterlichen Literatur Irlands“, sagt der Geschichtsprofessor, „aber die ist hunderte von Jahren nach der Christianisierung entstanden!“ Sonst gibt es nur noch Volkssagen und Mythen. „Als postmoderne Menschen können wir uns da etwas herauspicken und unser eigenes Druidenbild zusammen stellen.“ Bei aller Beliebigkeit sei eines aber klar, so der Spezialist für Naturreligionen: „Die Druiden waren im antikischen Europa die einzigen Leute, die von den Römern und Griechen respektiert wurden! Die sie gefürchtet haben. Und von denen sie sich inspirieren ließen!“ Daran ändere auch die Widersprüchlichkeit der zeitgenössischen Quellen nichts, meint Hutton. „Für manchen Autoren der Antike waren die Druiden weise und gütig, verstanden sie die Welt besser als jeder andere. Für andere waren sie blutrünstige Wilde und Barbaren.“ Dieser Kontrast mache sie so faszinierend.

Sprachwissenschaftler sagen, der Begriff ‚Druide’ setzt sich aus zwei Silben zusammen. Aus dem gälischen und auch walisischen ‚Dru’ — zu deutsch: Eiche. Und ‚Id’, – abgeleitet vom indogermanischen ‚Wid’ — zu deutsch: Wissen. Der Druide bringt also Wildnis und Wissen, Natur und Weisheit zusammen. Der Begriff Druide kann als Aufforderung verstanden werden, die Qualitäten von ‚Dru-’, der Wildnis, und ‚-id’, der Weisheit, in sich zu vereinen.

Ronald Huttons Hinweis auf den postmodernen Selbstbedienungsladen hatte mich aufhorchen lassen. Keine Naturreligion in Europa kann auf eine durchgängige, gewachsene, Jahrhunderte überdauernde Geschichte zurückblicken. Was heute wieder auflebt, ist zwangsläufig eine Konstruktion aus Projektionen, Wunschphantasien, Wissensfragmenten, Idealisierungen und Phantasieelementen. „Die größte Schwäche des Druidentums ist gleichzeitig seine größte Stärke“, sagt Philip Carr-Gomm. Er sollte es wissen, denn er ist ‚Chief Druid’, der Mann an der Spitze des ‚Orders of Bards, Ovates and Druids’.

Besuch beim Chef-Druiden

Ich habe Philip Carr-Gomm in Glastonbury kennen gelernt. Und dann so manches Mal wiedergetroffen. Seinen Druidenorden leitet der 1952 geborene aus seinem Privathaus in Sussex, in dem malerischen Städtchen Lewis. Wir sitzen bei einer Tasse Tee in seinem Arbeitszimmer, das erwartungsgemäss bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft ist. Philip stammt aus London, hat Psychologie studiert, eine Montessori-Schule gegründet, Bücher geschrieben und Tarot-Decks designed. Und eben eine druidische Gemeinschaft aus dem 18. Jahrhundert weiter entwickelt zu einem Esoterik-Angebot, das Anhänger in ganz Europa und den USA hat.

Wer den Weg des Druiden gehen will, in Carr-Gomms Auslegung, der kann einen Fernkurs absolvieren. Den muss man bestellen, sich schicken lassen und und sich über drei Initiationsstufen hinweg zum Neo-Druiden ausbilden lassen. Und das tun überraschend viele: 1200 Leute arbeiten sich gerade durch den druidischen Lehrstoff, erklärt mir Carr-Gomm. Schaffen sich keltische Mythologie, Naturkunde, Anleitungen zu Kreativität drauf. Den Lehrstoff gibt es nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Tschechisch, Französisch, Holländisch, Deutsch, Italienisch und Portugiesisch. „Den Kurs haben U-Boot-Matrosen der amerikanischen Navy absolviert“, sagt Carr-Gomm nicht ohne Stolz. „Leute, die in der Wüste in einem Flüchlingslager in Darfour arbeiteten. Obwohl das hart ist. Denn beim Druidentum geht es ja auch um die Beziehung zwischen Orten und Spiritualität. Es wurzelt in Wäldern, in europäischen Landschaften. Nicht in der Wüste, wie Christentum und Islam.“

Bruderschaft wie Freimaurer

Die weltweit rund zehntausend Mitglieder seines Druidenordens sieht Philip Carr-Gomm als Nachfahren derer, die das Druidentum vor rund 300 Jahren widerbelebt haben. Grob habe es das drei Strömungen gegeben, erklärt mir der Chief Druid. ‚Kulturelle Druiden’ nennt er diejenigen, die keltische Sprachen und Mythologie rekonstruieren. Dann gäbe es die ‚druidischen Bruderschaften’, eine Art Freimaurertum, das sich im 19. Jahrhundert ausbildete. In deren Logen wurde Mummenschanz gepflegt, mit langen Gewändern und falschen Bärten. Es gibt ein legendäres Photo von Sir Winston Churchill mit falschem Bart in Stonehenge. Auch Churchill war Mitglied einer Druidenloge. „Und schließlich gibt es als dritte Spielart uns: Leute, die Druidentum als einen spirituellen Weg sehen.“

Auch der junge Carr-Gomm war ein Suchender, als er mit elf Jahren Ross Nichols über den Weg lief. Der 1902 geborene und 1975 gestorbene Nichols war Dichter und Hochschullehrer. Als Druide nannte er sich ‚Nuinn’. „Als 11-jähriger bin ich dem damaligen Chef Druid begegnet. Er hat mir dieses Empfinden von Landschaft als heilige Landschaft vermittelt. Das Gespür für magische Orte. Heilige Haine, Steinkreise, Zauberberge. Das hat mich angesprochen: Diese Ahnung, dass sich hinter der Oberfläche von Autobahnkreuzen und Industrielandschaften etwas anderes befindet. Dass hinter dieser Fassade noch immer verzauberte Landschaften schlummern!“

1988 trat der Psychologe Carr-Gomm an die Spitze des Druidenordens. Geleitet wurde er von der Überzeugung, dass viele seine eigene spirituelle Orientierungslosigkeit und diffuse Ahnung von etwas sehr Altem, aber längst Vergessenem teilen. „Je mehr sich die Menschen von den etablierten Religionen entfremdeten“, sagt Carr-Gomm, „je mehr ihr Unbehagen angesichts der ökologischen Krise wuchs, desto stärker wurde das Bedürfnis nach neuen spirituellen Wegen. Nach etwas, das in Traditionen wurzelt, das authentisch ist und vor allem frei von Dogmen.“

Bedürfnis nach Gemeinschaft

Ebenso ausgeprägt, so Carr-Gomms Überzeugung, sei das Bedürfnis nach Anleitung und Gemeinschaft. Um seinen Orden möglichst frei von Dogmen zu halten und eine größtmögliche Klientel anzusprechen, hat er die rituelle Naturverehrung zum zentralen Kern seiner Lehre gemacht. „Sich in der Natur zu bewegen, die natürlichen Kreisläufe annehmen und etwa die Jahreszeiten wirklich leben: Das macht uns menschlicher und mitfühlender“, so Carr-Gomm. „Als Druiden wollen wir das verstärken, indem wir über das Jahresrund hinweg diesen Kreislauf mit Ritualen begleiten.“ So wie zur Wintersonnenwende in Gastonbury.

Das Neo-Druidentum, übrigens seit 2011 offiziell von der ‚Charity Commission for England and Wales’ als Religion anerkannt und damit steuerlich auf einer Stufe mit der Church of England, ist beileibe kein ländliches Phänomen. Zweimal im Jahr, jeweils zur Tag-und-Nacht-Gleiche, kann man in der achteinhalb-Millionen-Metropole London Druiden beim Ausüben ihrer Rituale beobachten. Im Frühjahr am Themseufer, direkt neben dem Tower. Und im Herbst auf dem Primrose Hill, am Nordrand des Regent’s Park, der Erhebung mit dem besten Blick über die Stadt. Als wären sie einer Zeitkapsel entstiegen tauchen an diesen beiden symbolträchtigen Tagen urplötzlich die Druiden im hektischen Großstadtgewusel auf.

Die meisten von ihnen tragen knöchellange weiße Gewänder mit Hauben, die eher an altmodische Krankenschwestertracht erinnern, denn an das Outfit von Naturreligiösen. Einige der teilnehmenden Frauen haben sich jedoch Blumen ins Haar geflochten. Manche tragen Erntegaben in Schalen. Andere ein Schwert oder das meterlange Horn, dessen Klang die Zeremonie eröffnet. Die beginnt und endet damit, dass die Druiden einen Kreis bilden. Ein gemeinsames Ganzes, das keinen Anfang und kein Ende kennt.

Beim Stadt-Druiden

Auf dem Primrose Hill lerne ich bei einer dieser Zeremonien JT Morgan kennen. Mit einem kleinen Kreis Gleichgesinnter zelebriert er im Hawthorn Grove, einem Hagedornhain, seine eigenen, selbstgeschriebenen Rituale. JT ist für mich der Inbegriff eines Stadt-Druiden. Anderntags besuche ich ihn auf Arbeit. Morgan ist Schneidermeister von Beruf, nennt sich daher auch Jay the Tailor, und betreibt seine Schneiderei in einem alten Eisenbahnbogen im Londoner Stadtteil Hammersmith. Ein urbaneres Setting kann man sich kaum vorstellen. Morgan hat es nie auf’s Land gezogen. Allein auf freier Wildbahn ist sein Ding nicht. Dafür kennt JT in den Londoner Parks jeden Strauch, jeden Baum und beinahe jeden Halm. Die Vögel, die Nagetiere. Alles was kreucht und fleucht.

JT sucht und bewundert die Natur in ihren Nischen. Die natürlichen Mikrokosmen, die es an den unerwartetsten Stellen zu entdecken gilt. In Hinterhöfen, auf Verkehrsinseln, an den Rändern der Parkplätze, auf den Dachterrassen, sogar in den Schlaglöchern. Wo immer der Asphalt aufbricht und den Boden entsiegelt, da kommt Natur zurück. Für JT Morgan ist es kein Widerspruch, großstädtisch zu leben und gleichzeitig Natur zu verehren. Das ist für ihn auch der Kern seines Druidentums: „Wenn jemand nicht nur mit den Bäumen redet, sondern auch noch eine Antwort erhält, dann ist er ein Druide.“ Ansonsten ist JT herrlich gelassen und undogmatisch. Man dürfe das mit den Druiden auch nicht allzu ernst nehmen, meint er. Und müsse aufpassen, die Riten und Gebräuche nicht ins Lächerliche zu ziehen.

„Druiden lieben es, keltische Begriffe zu benutzen. Bei näherer Betrachtung entpuppen die sich aber oft als erfunden: Sie sind unecht. Und viele wissen nicht einmal, wie man sie ausspricht!“ Morgans eigene Rituale sind daher durchgehend auf Englisch. Um möglichst viele anzusprechen, denn der kleinste gemeinsame Nenner sei die Ahnung davon, dass die Welt aus mehr als nur einer stofflich-materiellen Ebene besteht: „Die Liebe zur Natur muss mit einem gewissen Hang zu Spiritualität einhergehen; – ohne eine spirituelle Ebene des Daseins zu akzeptieren geht es nicht!“

Dunkle Germanen vs. keltische Lichtgestalten

Naturverehrung und Geschichtsbewusstsein – das hatte mir schon der Geschichtsprofessor Ronald Hutton als wichtigste Zutaten des druidischen Gebräus anempfohlen. „Die Abgelöstheit von natürlichen Lebenszusammenhängen und einer geschichtlichen Tradition; das ist am Ende das Dilemma des modernen Menschen“, so der Akademiker, der zwischen Hörsaal und heiligen Hainen pendelt. Ich muss an Deutschland denken. Wo zwar die Ökologiebewegung stark ist; was übrigens immer wieder von den britischen Druiden hervorgehoben wird. Sich jedoch in einer germanischen Tradition zu verorten, kann einen bekanntlich schnell in Erklärungsnöte bringen. Vermutlich boomt deshalb die Rückbesinnung auf das keltische Erbe in den entsprechenden deutschen Regionen.

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Wie Pilze sind in den zurückliegenden Jahren Keltenmuseen, Keltenforts, Keltenhügel und Keltenfestivals aus dem Boden geschossen. Wo die Germanen die dunklen Ahnen sind, erleben die keltischen Lichtgestalten jetzt ihre unerwartete Renaissance. Ronald Hutton und Philip Carr-Gomm könnten in ihrer Analyse der Defizite des modernen Menschen im Digitalzeitalter recht haben. Weit über ihr englisches Wirkungsfeld hinaus.

Das Druidentum, das beide praktizieren, hat mich jedoch zunächst wegen seiner so britischen Schrulligkeit angezogen. Und dazu gehören zentral die Schauplätze. Stonehenge, Avebury, Tintagel, das Bodmin Moor und immer wieder dieses Glastonbury, wohin wir zum Schluss noch einmal zurückkehren.

Liegt hier König Artus?

Die vielen skurrilen Esoterik-Läden im Ortskern von Glastonbury, das Überangebot an Selbsterfahrungs-Seminaren und Kursen, die schamlose Vermarktung des Images als spirituell besonderer Ort haben den Ort dennoch nicht seine unbestreitbare Magie genommen. Im Herzen von Glastonbury findet sich eine der malerischsten Ruinen Englands: Die der Glastonbury Abbey, geschliffen im 16. Jahrhundert während der Reformationswirren. Ihre Überreste sind immer noch so eindrucksvoll, das man eine Ahnung kriegt von deren Pracht, als sie noch die wohlhabendste Klosterkirche Englands war.

Zur Legende wurde sie, als im 12. Jahrhundert das Gerücht aufkam, Artus sei auf dem Klostergelände begraben. Die britische Krone war elektrisiert. Mönche wurden mit umfangreichen Ausgrabungsarbeiten beauftragt. 1191 soll der Legende nach, zwei Meter unter der Erde, ein großes Kreuz aus Blei gefunden. Darauf soll gestanden haben: ‚Hier ruht König Artus, begraben in Avalon’. Zwei weitere Meter tiefer wurde dann angeblich ein Eichensarg ausgebuddelt. Mit zwei Skeletten darin. Das eines großen Mannes mit einer Schwertwunde im Schädel. Und das einer Frau, vermutlich Ginevra, Artus’ Gattin.

Der Auftraggeber und Finanzier des archäologischen Unterfangens, König Edward I., ein erklärter Artus-Fan, ließ die Gebeine daraufhin in einer pompösen Zeremonie beisetzen und eine prunkvolle Artus-Grabstätte errichten. Dabei ging es auch ganz profan um weltliche Macht. Edward wußte um die mythologische Bedeutung des Sagenkönigs für die aufmüpfigen Waliser. Ähnlich wie beim Kyffhäuser glaubten die, Artus schlafe nur und könne ihnen jederzeit in der Stunde der Not zur Hilfe eilen. Dem konnte Edward nun entgegen halten: Seht, Artus ist tot. Wir haben seine Gebeine. Er wird niemals zurückkommen.

Die bizarrste Attraktion

Heute freilich gibt es keine Spur mehr vom Bleikreuz, von den königlichen Knochen und der edwardianischen Prunkstätte mit dem Grabstein aus schwarzem Marmor. Alles verschwunden, zerstört, 1539 geschliffen unter Heinrich VIII. Doch als Mythos ist die Sage so lebendig wie eh und je. Ich schlendere mit Julie Hayes über das Klostergelände. Sie ist die Museumspädagogin der Abbey und erzählt mir ihre persönliche Geschichte. Mit Worten, die mich sehr an die Erlebnisse der Druiden erinnern: „Ich selber stamme ursprünglich nicht von hier, sondern aus Nottinghamshire. Aber ich hatte das Gefühl, nach Hause zurück zu kehren. Dieser Ort ist ganz besonders: Er strahlt Ruhe aus. Man vergisst, dass es eine Welt jenseits von Glastonbury gibt!“

Die vielleicht bizarrste Attraktion von Glastonbury verbindet den Ort aber nicht mit Keltenerbe oder Artus-Mythos, sondern dem blutjungen Christentum. Die Briten glauben, sie seien eine der ersten Nationen Europas gewesen, zu der die Lehre des Gekreuzigten weitergetragen wurde. Als Beweis dafür muss der Glastonbury Thorn herhalten: Ein Dornenbusch, der aus dem Wanderstab von Josef von Arimathäa gewachsen sein soll. Als der Mann, der dem hingerichteten Erlöser sein Grab in Jerusalem überlassen haben soll, nach Christi Kreuzigung ausgerechnet nach Glastonbury kam. Der feste Glaube daran, dass England in der Hierarchie der auserwählten Länder kurz hinter dem Heiligen Land kommt, reicht bis ins Herz des Königshauses hinein. Wenn die Queen alljährlich ihre Weihnachtsansprache im Fernsehen hält, dann liegt ein Zweig dieses Weißdornbusches vor ihr auf dem Tisch. Angeblich hat Josef von Arimathäa auch den Heiligen Gral mit nach Glastonbury gebracht. Genug Sagenstoff also, um Heerscharen von Sinnsuchern anzulocken. So mancher bleibt für immer. So wie Pat Mead.

Ich treffe mich mit Pat auf dem Hügel, auf dem der Thorn thront. Oder gethront hat, denn kurz vor unserem Wiedersehen haben Vandalen den mythenumrankten Busch in einer nächtlichen Aktion abgeholzt. Ein unerhörtes Sakrileg, das tagelang für Schlagzeilen im Königreich sorgte. Da aber über die Jahre genügend Ableger des verehrten Gehölzes an anderen Orten erfolgreich eingepflanzt wurden, etwa im Londoner Kew Gardens, konnte der Weißdorn durch einen gärtnerischen Kniff wiederbelebt werden. Das robuste Gehölz wurde zu neuem Leben erweckt.

Heiliger Stumpf

Als ich Pat treffe, stehen wir noch vor einem traurigen Stumpf. „Ich hatte das erst für einen kranken Scherz gehalten“, erinnert sie sich. Doch die Nachricht, die sich wie ein Lauffeuer in Glastonbury verbreitet, war wahr. Eine „Schockwelle“ sei durch den Ort gegangen, so Pat, Menschen aller Weltanschauungen seien zu dem Baumstumpf gepilgert, um sich ein Bild von der zerstörerischen Tat zu machen. Für die Druidin lag jedoch auch etwas Tröstliches in der Tragödie: „Wicca-Hexen waren da, Druiden, Vertreter der örtlichen Kirchen – alle waren schockiert und verstört angesichts des trostlosen Baumstumpfs, der lange eines der Wahrzeichen von Glastonbury war. Alle haben beieinander gestanden.“ Und so hatte der Weißdorn auch im Ableben noch Magie über den Ort gebracht.

Diese Episode bringt für mich sowohl den genius loci von Glastonbury, als auch das Erfolgsrezept der Druiden-Renaissance auf den Punkt. Wie hatte es schon Ronald Hutton formuliert, der druidische Gelehrte: „As postmodern people we take our pick!“ Wir basteln uns unsere ganz eigene Patchwork-Spiritualität. Auch Philip Carr-Gomm, der Chief Druid, weiss, dass im Zeitalter der Beliebigkeit nicht nur Sehnsucht nach Sinn entsteht, sondern aufgrund der zahllosen Ausweichmöglichkeiten auch eine tiefsitzende Scheu vor Bindung und Verpflichtung. Sein Neo-Druidentum ist eine Art naturschwärmerische Meditationsanleitung, dem Zen gar nicht so unähnlich, und daher kompatibel mit fast allen Credos auf dem Markt.

„Und so gibt es Leute, die sich Druiden nennen und Monotheisten sind, oder Duotheisten, Polytheisten, Pantheisten. Ja, sogar Atheisten“, sagt Carr-Gomm und schüttelt den Kopf. „Dieses ganze Konzept von Theismen bringt uns nicht weiter. Das Druidentum zieht wenig aus Theologie. Und viel aus der Natur: Sich in ihr bewegen, sich von ihr nähren lassen.“

Pat Mead verkörpert diese Haltung wie niemand sonst, den ich auf meinen Druidenpfaden getroffen habe. Und sie ist am richtigen Ort, denn nirgends sonst als in Glastonbury gibt es diesen postmodernen Cocktail aus Mythen und Traditionen. Wir stehen am Thorn und blicken hinüber zum Tor: Wie der sich über der Kleinstadt erhebt mit dem Turm der geschliffenen Klosteruine St. Michaels auf seinem Gipfel. Vielleicht ist die Erfolgsgeheimnis der spirituellen Hauptstadt Britanniens in Wahrheit ganz banal. Und erklärt sich schlicht aus der betörenden Schönheit dieses Anblicks.

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