Das verlassene Paradies

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Jahrelang diente die Kurstadt Villa Epecuén wohlhabenden Argentiniern als Urlaubsoase. Bis 1985 ein Damm brach und die Stadt überflutet wurde. Mehr als 20 Jahre später gibt der See die Stadt wieder frei. Ein Streifzug durch eine bedrückende Ruine.

Unwirklich. Das ist mein erster Gedanke, als wir aus dem Auto steigen. Eben waren wir noch im idyllischen Nirgendwo, jetzt sind wir mitten in der Apokalypse. Die Straße endet abrupt vor uns, sie ist überlagert von einer zentimeterdicken Schlammschicht – mit unserem Mietwagen kommen wir hier nicht durch. Vom Horizont her schlängelt sich ein schmaler Graben auf uns zu, in dem schmutziges Wasser steht. Fliegenschwärme hocken auf dem feuchten Boden. Rechts und links der Straße säumen kahle Bäume den Wegesrand, strecken ihre blattlosen Äste wie mahnende Finger gen Himmel. Stumme Zeugen der Zerstörung.

Wir sind zu den Ruinen von Villa Epecuén gefahren. 60 Jahre lang war die Stadt neben Mar del Plata einer der beliebtesten Urlaubsorte der Argentinier. Bis der angrenzende See Lago Epecuén 1985 über die Ufer trat und die Stadt verschluckte. Erst 24 Jahre später gibt der See den Kurort wieder frei. Seit 2009 zieht sich das Wasser langsam zurück. Straßenzug um Straßenzug taucht wieder auf. Doch auch im Dezember 2012, als wir nach Villa Epecuén kommen, steht ein Teil der Stadt noch immer unter Wasser.

Der Untergang des Ferienparadieses

Unser Besuch beginnt in der ehemaligen Bahnstation der Stadt. Sie beherbergt heute ein kleines Museum, das Fotos und Überbleibsel aus der Blütezeit des Ortes konserviert. Hier erfährt man, dass die Stadt in den 20’er Jahren gegründet wurde und sich schon bald zu einem beliebten Urlaubsort mauserte. Villa Epecuén liegt rund 600 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Der Salzgehalt des Lago Epecuén ist ähnlich hoch wie der im Toten Meer. Er zog wohlhabende Hauptstädter und einfache Arbeiter in die Stadt, die bald den Ruf eines ausgezeichneten Kurortes hatte. Während gut betuchte Damen mit Heilbädern ihr Hautbild verfeinerten, kurierten Bergarbeiter ihre in den Minen geschundenen Lungen. Zu Spitzenzeiten fanden pro Jahr 25.000 Touristen den Weg in die Stadt, in der sonst nur 1500 Menschen leben. Der Ansturm wurde so groß, dass Villa Epecuén eine eigene Eisenbahnanbindung bekam.

Die Bilder im Museum zeigen einen trubeligen Badeort, auf dessen Hauptstraße sich die Autos drängen. Mittendrin ein Fernbus, der neue Urlauber in die Stadt bringt. Badegäste lachen fröhlich in die Kamera, während sie sich auf einem großen Schwimmreifen durch das Wasser treiben lassen. Die Aufschrift „Lago Epecuén 1984“ auf dem Schwimmreifen datiert das Foto auf wenige Monate vor dem Untergang des Ferienparadieses.

© Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
Die Avenida Alvear liegt etwas höher als der Rest der Stadt. Sie führt zum Campingplatz und dem ehemaligen Schlachthaus von Villa Epecuen. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Als das Wasser begann sich zurückzuziehen, bildeten diese knorzigen Bäume offenbar eine natürliche Barriere. Hier sammelten sich allerhand Kleinteile und Schrott an. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Mitten im Trümmerfeld eine Treppe. Die Wände des Hauses, das hier stand, sind eingestürzt und fortgespült worden. Jetzt erobern sich kleine Gräser zaghaft den Lebensraum zurück. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Auch nach dem Rückzug des Wassers ist der Picknickplatz unbenutzbar. Der Boden ist noch immer so feucht, dass man zentimetertief einsinkt. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Das ehemalige Schlachthaus der Stadt blieb als einziges von der Zerstörung verschont. Doch auch am "Matadero" nagt der Zahn der Zeit, betreten sollte man die Ruine besser nicht. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Die Treppe ins Nirgendwo scheint ein letztes Überbleibsel der einstigen Vergnügungsmeile: Wenige Meter von hier stand das Tanzlokal "Bim Bam Bum". © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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In manchen Straßenzügen blieb kein Stein auf dem anderen. Die einstigen Häuser sind verschwunden, an ihrer Stelle blieb nur Schlamm. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Fundamente, Trümmer und eine schlammige Straße sind die Zeugen der Flut. Mittendrin die Überreste eines Hauses, dessen große Fenster an die Durchreichen eines Schnellrestaurants erinnern. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Auch Waschbecken und Fässer spülte der Lago Epucuén durch die Stadt. Die Überreste des einstigen Lebens der Touristenstadt rosten und rotten in der Sonne vor sich hin. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Das Wasser hat dem alten Ford seine Hülle geraubt. Einzig Karosserie, Motorblock und die von Salz und Witterung weiß geblichenen Reifen sind geblieben. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Darüber, warum die Besitzer ihn zurücklassen haben, kann man nur spekulieren. Der alte Ford ist das einzige Gefährt, das wir in der Trümmerstadt zu sehen bekommen. © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
  • © Jasmin Lörchner und Joergen Naskrent
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Der Anfang vom Ende

Eine holprige Allee führt uns in die Stadt. Hier sind die Bäume noch grün – das letzte Leben vor der Einöde. Der Asphalt ist aufgesprungen und zwingt uns zum Slalom. Als wir die Allee verlassen, sehen wir plötzlich die Ruinen von Villa Epecuén – wir wähnen uns in einer Kulisse von Roland Emmerichs nächstem Apokalypse-Film. Die Häuser um uns herum sind teilweise regelrecht pulverisiert.

Der Anfang vom Ende begann mit einem Wetterumschwung. Jahrlang litt die Region unter einer intensiven Trockenperiode, in deren Folge sich das Wasser des Lago Epecuén immer weiter zurückzog. Um zu verhindern, dass der schwindende See den Touristenstrom unterbricht, ließ die Regionalregierung der Provinz Buenos Aires 1978 einen Kanal bauen, der Wasser aus fernen Gewässern sammelte und in sechs Seen leitete – der letzte von ihnen: der Lago Epecuén. Die Gefahr, der Lago Epecuén könne austrocknen, war gebannt. Doch die Folgen einer Regenperiode hatte offenbar niemand bedacht.

Als 1985 ein Jahr mit ungewöhnlich viel Regen anbrach, stiegen der Wasserspiegel des Lago Epecuén und des zuführenden Kanals stetig an. Obwohl sich die Lage über Wochen zuspitzte, reagierten die zuständigen Behörden nicht. Provinz und Regierung schienen gelähmt, das Land kämpfte mit den Folgen der Militärdiktatur. Argentinien war zerrüttet und lag wirtschaftlich danieder. Der glücklose neue Präsident Roul Alfonsin kämpfte mit einer viel zu hohen Inflation und versuchte, eine stabile Demokratie aufzubauen. Die Gefahrenlage am Lago Epecuén ging im Regierungschaos unter – es fühlte sich schlichtweg niemand richtig zuständig.

Tragödie ohne Tote – ein Wunder

Wir laufen die Avenida de Mayo hinunter. Neben uns taucht das Hotel Monterreal auf. In den 70ern eröffnet, beherbergte es 31 Apartments. Heute ist es eines der wenigen Gebäude, das noch steht. Schräg gegenüber liegt das Hotel Parque in Trümmern. Das obere Geschoss des einstigen Prachtbaus von 1937 ist auf die untere Etage gestürzt. Absurd türmen sich die Betonteile übereinander. Dort wo einst sicher ein hübscher Garten war, steht noch eine verrostete Schubkarre. Obwohl das Vorderrad längst weggeschwemmt wurde, wirkt es, als hätte der Gärtner die Karre gerade erst abgestellt. Wäre da nicht dieses Trümmerfeld um uns herum.

Das Wasser des Lago Epecuén bahnte sich am 10. November 1985 seinen Weg in die Stadt. Nach den wochenlangen Regenfällen hielt der Damm, der die Stadt schützte, den Wassermassen nicht mehr stand. Er brach an mehreren Stellen, so dass das Wasser unaufhaltsam in die Stadt drückte. Einwohner und Touristen mussten fluchtartig die Stadt verlassen – dass niemand zu Tode kam, ist noch heute ein Rätsel. Villa Epecuén versank innerhalb weniger Stunden. Die Fluten konservierten eine blühende Touristenstadt.

27 Jahre später ist davon nichts mehr übrig. Auf den Ruinen blühen die Salzkristalle. Es riecht muffig. Obwohl die Sonne brennt, tragen wir lange Kleidung. Das stehende Gewässer ist ein Paradies für Mücken. Immer wieder müssen wir Pausen einlegen und uns neu mit Mückenspray einnebeln. Dann geht es weiter durch das Trümmerfeld. Die für den Menschen heilende Wirkung des Salzwassers war für die Gebäude der Stadt pures Gift. Das Salz hat sich in den Beton gefressen und ihn porös werden lassen.

Und doch stoßen wir immer wieder auf Spuren der Zivilisation. Inmitten der Ruinen rostet ein Bettgestell vor sich hin. Unter einem toten Baum steckt eine intakte Badewanne im Schlamm fest. Auf einem Betonblock steht ein Kasten unversehrter Cola-Flaschen.

Ein Überlebender – El Matadero

Wenn uns das Wasser den Weg versperrt, klettern wir über die Ruinen zum nächsten trockenen Platz. Plötzlich stehen wir in einer Hauseinfahrt, in der noch die Sandsäcke liegen. Als hätten die Bewohner erst gestern ihre Vorsichtsmaßnahmen getroffen.

Man erzählt sich, dass einige Einwohner auf die Dächer ihrer Häuser kletterten, um den Rückgang der Fluten abzuwarten. Doch das Wasser wich nicht zurück. Bis zum Frühjahr 1986 stieg der Pegel auf vier Meter. 1993 lagen Teile der Stadt acht bis zehn Meter unter Wasser.

Nur ein einziges Gebäude am Rande der Stadt lag so hoch, dass die Fluten es nie erreichen konnten: el Matadero. Das einstige Schlachthaus ist heute die Heimat unzähliger Taubenkolonien und die perfekte Kulisse für Mutproben. Graffitis zeugen von Ausflügen der örtlichen Jugend hierher. Schon tagsüber wirkt das Gebäude wenig einladend. Wie unheimlich muss es erst nachts sein, wenn die Tauben gurren und das Gebäude nur noch vom Mond angestrahlt wird.Direkt nebenan liegt der alte Campingplatz – doch nur der verlassene Spielplatz erinnert noch daran, dass hier einst diejenigen Besucher wohnten, die nicht genügend Geld für eines der guten Hotels der Stadt hatten. Ich schubse eine der verwitterten Wippen an. Sie quietscht. Dann legt sich wieder Stille über den Ort.

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  1. Dort wurde auch ein Musikvideo gedreht von der argentinischen Band "El mató a un policía motorizado" (ja die heißen wirklich so 😉
    https://www.youtube.com/watch?v=RerUcxNPKek

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