Reportagen-Melder
Verpasse keine neue Reportage! Wir benachrichtigen Dich kostenlos per E-Mail. Mit dem Eintrag stimmst Du zu, dass wir Deine Daten speichern, wir verwenden sie ausschließlich zu diesem Zweck.

Verblasste Tinte aus Muttermilch, Spucke und Ruß unter der Haut alter Frauen: In Bosnien-Herzegowina gibt es noch heute Reste eines alten christlichen Tattookults, der noch aus der Zeit der osmanischen Besatzung stammt.  

Nicol Lovrić zupft an ihrem Pullover, streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. In ihrer Hand hält sie ein altes, vergilbtes Foto. „Das sind meine Oma und ich“, sagt sie mit traurigem Lächeln. „Sie ist gestorben, als ich sechs war.“ Nicols Vater erzählt der 23-Jährigen immer wie ähnlich sie ihrer toten Großmutter ist. Genauso aufbrausend und stur. Sie hat das gleiche Grübchen wenn sie lacht und dieselben strahlenden Augen. Auf dem Foto erkennt man ein Tattoo auf der Hand ihrer verstorbenen Großmutter. „Ich will es mir unbedingt nachstechen lassen“, erklärt die Sonderschullehrerin. „Es ist nicht nur ein Symbol für meine Oma, sondern auch ein Zeichen der Zugehörigkeit und die Erhaltung einer Tradition.“

Spiritueller Schutz vor Osmanen

Die genaue Zahl an traditionell tätowierten, katholischen Frauen auf dem Balkan ist nicht bekannt. Tea Mihajlović begann 2008 mit der Recherche über den über 500 Jahre alten Brauch. Sie machte sich die Nachforschung des alten Katholikenkults zum Hobby, weil sie die Tradition ihrer Vorfahren fasziniert. Die 29-Jährige hat mit etwa 200 traditionell tätowierten Frauen gesprochen. „Es ist mehr als nur Dekoration, es dient zur Identitätserkennung“, erklärt die junge Mutter.

Katholische Gemeinden in Bosnien und Herzegowina litten während der osmanischen Herrschaft. Viele der Katholiken konvertierten zum Islam, Kinder wurden entführt und Mädchen zwangsverheiratet. Junge Frauen tätowierten sich gegenseitig Kreuze und andere historische Zeichen auf Hände, Brust, Rücken und Stirn. So kennzeichneten sie sich für den Fall einer Entführung und verwendeten die Kreuze und Ornamente als spirituellen Schutz vor Osmanen.

Verbindung zur Religion

Ganze Gruppen von Mädchen im Alter zwischen drei und sechs wurden meist am 19. März, dem Tag des heiligen Josip, oder am 25. März, „blagovijest“, der „Maria Verkündung“ tätowiert. Beide Termine sind wichtige katholische Feiertage in der Karwoche. Ruža Jonjić war bei ihrer ersten Tätowierung am 19. März 1949 sechs Jahre alt.

Die heute 70-Jährige Ruža ist in Kupres geboren und aufgewachsen. Hier hat sie geheiratet, Kinder bekommen und ihren Mann verloren. Jeden Sonntag besucht sie die gleiche Kirche, seit über 60 Jahren. Ruža blickt auf ihren Handrücken. Sie empfindet ihre Tätowierung als Verbindung zu ihrer Religion. „Ich bin sehr stolz auf meine Tattoos“, erklärt sie. Sie greift nach dem Anhänger an ihrer goldenen Halskette, es ist ein Kreuz. „Als Katholikin gehören sie zu mir.“ Ihre Stimme wird bestimmter. „Es wäre eine Schande, würde ich mich dafür schämen oder sie gar verstecken.“

Die Tattoos sind verzierte Kreuze oder Ornamente. Die genaue Bedeutung kennen selbst die tätowierten Frauen nicht mehr genau. Es war ein Brauch, der über die Jahrhunderte eingehalten wurde. Die beliebtesten Stellen zum Stechen waren Unterarme, Hände und Finger. Kreuze auf Brust und Stirn waren bei älteren Generationen üblich, nur sind diese Frauen mittlerweile gestorben. Auch die Männer zierten einst die gleichen Zeichen, die sind aber ebenfalls tot.

Die Tattoos werden mit Ruß, Honig, Spucke und Kohle gestochen, je nach Region unterscheidet sich die Mixtur. Foto © Marko Mestrović
Die Bedeutung der Ornamente und Zeichen kennen die Menschen nicht mehr. Foto © Marko Mestrović
"Hier in der Gegend hat jede Frau in meinem Alter mindestens ein Tattoo“, erzählt die 82-jährige Zora (links). Eine moderne Variante der alten Symbolik: Junge Frauen gehen der Tradition ihrer Großmütter nach (rechts). Foto © Marko Mestrović
Die 76-Jährige Milica bekam ihr erstes Tattoo mit sieben. Heute sind ihre Hände rau und ledern, die gestochenen Symbole schwer zu erkennen. Foto © Marko Mestrović
Ruža empfindet ihre Tätowierung als Verbindung zu ihrer Religion (links). Der alte Tattoo-Kult ist Teas Hobby geworden. Auch sie hat ein Symbol auf ihrem Arm verewigt. Foto © Marko Mestrović
Die Tattoos sind verzierte Kreuze oder Ornamente. Die beliebtesten Stellen zum Stechen waren Unterarme, Hände und Finger. Foto © Marko Mestrović

Ruß, Honig, Spucke und Muttermilch

Die 82-jährige Zora Stojanović bekam wie Ruža ihr erstes Tattoo am 19. März, im Jahre 1944. „Ich war damals 13 Jahre alt“, erzählt die 20-fache Großmutter mit schelmischem Lachen.

Für das Stechen der Tätowierungen wurden eine einfache Nadel und eine Mischung aus Ziegen- oder Muttermilch einer Frau, deren Erstgeborenes männlich war, verwendet. Hinzu kam entweder Ruß, Honig, Spucke oder Kohle. Je nach Region unterschied sich die Mixtur. Die meisten traditionell tätowierten Frauen leben in den bosnischen Städten Kupres, Prozor, Travnik und Jajce.

Zora wohnt in einem Dorf in den Bergen der Region Rama in Herzegowina. Sie hat ein kleines Häuschen und nur einen direkten Nachbarn. Die Fahrt in die nächstgelegene Stadt Prozor dauert 20 Minuten. „Hier in der Gegend hat jede Frau in meinem Alter mindestens ein Tattoo“, sagt sie und schenkt sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein. „Es war damals einfach eine Kennzeichnung von katholischen Mädchen.“

Junge Mädchen wurden gehänselt

„Eine alte Legende besagt, dass ein katholisches Mädchen vor langer Zeit von einem Osmanen entführt wurde. Er befahl ihr, dass tätowierte Kreuz von ihrer Haut zu kratzen. Sie folgte seinem Befehl und entdeckte ein in ihren Knochen geritztes Kreuz“, beginnt Milica Simić ihre Erzählung. Die 76-Jährige richtet ihre Frisur, streift ihr schwarzes Kleid glatt. Milicas Einfamilienhaus ist groß und wirkt aufgeräumt. Im Wohnzimmer hängt ein großes Kreuz aus Holz, in der Küche ein Foto des Papstes.

Milica hatte nie Probleme wegen ihrer Tattoos. Obwohl der Trend während des Kommunismus aufhörte. Frauen verloren ihre Arbeitsplätze. Junge Mädchen wurden gehänselt. „Mich haben sie nie schikaniert“, erinnert sich die Witwe. „Aber ich kannte viele Mädchen, die aufgrund der Zeichen ausgelacht wurden.“ Ein Grund warum die letzte traditionell tätowierte Frau 1984 gestochen wurde.

Die 76-Jährige Milica bekam ihr erstes Tattoo mit sieben. Heute sind ihre Hände rau und ledern, die gestochenen Symbole schwer zu erkennen. „Damals hat man sie besser erkannt“, erzählt die praktizierende Katholikin. „Aber ich habe meine Hände eben all die Jahre genutzt, meine Haut ist verbraucht.“

Der Großmutter huldigend

Nicols Hände sind jung, unverbraucht und gepflegt. Bald soll die Innenseite ihres Unterarms das gleiche Symbol tragen wie das ihrer verstorbenen Großmutter. „Zwischen meiner Oma und mir gab es immer eine besondere Verbindung“, sagt Nicol und legt das Bild der beiden beiseite.

Der Vater der 23-Jährigen teilt die Begeisterung seiner Tochter. Mit Freunden hat sie noch nicht darüber gesprochen. „Es ist eher eine familiäre Angelegenheit.“ Nicol will die Tradition ihrer Großmutter aufrechterhalten. Sie will verhindern, dass der katholische Kult in Vergessenheit gerät. Sie wird still, wirkt gedankenverloren. „Meine Oma wäre sicher glücklich über mein Tattoo.“

Aus alt mach neu

Wie Nicol hatte auch Maja Brkan eine außergewöhnliche Beziehung zu ihrer Großmutter. Den Rücken der jungen Frau schmückt ein Ornament, das aussieht wie ein Traumfänger. Für Maja ist das Tattoo mehr als nur eine Kennzeichnung ihres Glaubens. „Meine Oma hatte auch eines und ich war als Kind immer so fasziniert davon“, schwelgt die 21-Jährige in Kindheitserinnerungen. „Deswegen habe ich mich auch für ein Symbol aus dieser Zeit entschieden.“

Ob Anker, Federn oder Liebessprüche – Tattoos sind die Modeerscheinung des 21. Jahrhunderts. Mädchen wie Maja und Nicol nutzen die Tradition vergangener Generationen um ihre eigenen Tätowierungen einzigartig zu machen. Sie verbinden Vergangenes mit dem Trend von heute und drücken so ihre Zugehörigkeit aus. Ähnlich wie es ihre Großmütter einst taten. Maja wird im November heiraten. „Ich habe mein Hochzeitskleid extra so ausgesucht, dass mein Tattoo zu sehen ist“, erzählt die zukünftige Ehefrau.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert