Exiltibeter in Nepal

Gelobte, unbekannte Heimat

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In Nepal leben rund 20.000 tibetische Flüchtlinge und deren Nachkommen. Viele von ihnen ohne Dokumente, ohne Rechte und ohne Tibet jemals gesehen zu haben.

Lobsang Tsering ist ein ernster, junger Mann. Der 36-Jährige mit dem akkurat frisierten Haar und der randlosen Brille antwortet kurz und präzise, seine Worte wählt er mit Bedacht. Nur wenn er über den Umgang der chinesischen Regierung mit Tibetern spricht, hebt er die Stimme. Dann ahmt er das Geräusch von Schüssen nach und demonstriert, wild gestikulierend, wie Polizisten mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgehen.

Lobsang ist einer von rund 20.000 Exiltibetern, die heute im südlichen Nachbarland Nepal leben. Seine Eltern waren Teil der ersten großen Flüchtlingswelle, die 1959 – neun Jahre nach dem Einmarsch der chinesischen Armee – das Land verließ. 80.000 Tibeter folgten ihrem Oberhaupt, dem Dalai Lama, damals ins Exil. Die meisten nach Indien; andere, wie Lobsangs Eltern, gingen nach Nepal. Lobsang wurde in der Hauptstadt Kathmandu geboren, ging in eine tibetische Schule, später schloss er sich einem Kloster an. 2002 zog die Klostergemeinschaft nach Pokhara, in den Norden des Landes. Heute ist Lobsang ihr Sekretär, verwaltet die Finanzen und organisiert die Aktivitäten der Klosterschule, die 90 Schüler im Alter von sechs bis 18 Jahren beherbergt.

„Ich habe in Nepal keine Rechte“, erklärt er, während er über das Schulgelände führt. „Ich darf kein Land kaufen, nicht wählen gehen und nicht einmal Auto fahren“. Der Grund: Lobsang hat keine offiziellen Dokumente. Weil er Bürger eines Staates ist, der international nicht anerkannt wird. Bestechung oder eine Heirat mit einer Nepalesin wären für ihn die einzigen, wenn auch vagen Möglichkeiten auf einen nepalesischen Pass gewesen – Möglichkeiten, die für ihn nicht in Frage kamen. Lobsang ist verheiratet, hat zwei Kinder. Auch seine Frau ist Nachfahre tibetischer Flüchtlinge. Darauf legt er Wert.

In Tashi Palkhiel, der ältesten tibetischen Siedlung bei Pokhara, verteiben sich die Einheimischen ihre Zeit mit Karten spielen. ©Sascha Lübbe
Die Pem Tsal Sakya-Klosterschule in Pokhara. Hier leben und lernen etwa 90 Schüler. ©Sascha Lübbe
Die Kinder in der Klosterschule sind im Alter von sechs bis 18 Jahren. ©Sascha Lübbe
Der Koch der Klosterschule verpflegt die 90 Schüler. © Sascha Lübbe
Lobsang Tsering, Sekretär der Pem Tsal Sakya-Klosterschule, ist Exiltibeter und lebt in Nepal ohne offizielle Dokumente. ©Sascha Lübbe
Lamo Namgang floh als Kind aus Tibet nach Nepal. © Sascha Lübbe
Tashi Palkhiel ist eine Siedlung bei Pokhara. Hier leben etwa 1000 Exiltibeter. ©Sascha Lübbe
Das Viertel entstand Anfang der 1960er Jahre, zunächst als provisorisches Zeltlager. ©Sascha Lübbe
Mit nationaler und internationaler Hilfe wurde aus Tashi Palkhiel eine feste Siedlung. ©Sascha Lübbe
Das Herz der tibetischen Gemeinschaft in Kathmandu: Der Stupa von Bodhnath, einer der größten in der Welt. ©Sascha Lübbe
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Der alltägliche Wahnsinn: Straßenszene aus Kathmandu ©Sascha Lübbe

Nach Angaben des UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, besitzt mindestens die Hälfte der Exiltibeter in Nepal keine Dokumente. Bevor 1989 der Kriegszustand über die tibetische Hauptstadt Lhasa verhängt wurde, wurden die Flüchtlinge zwar aufgenommen, die entsprechenden „refugee cards“ aber nur teilweise ausgestellt. Seit 1990 nimmt Nepal gar keine tibetischen Flüchtlinge mehr auf, Neuankömmlinge werden direkt nach Indien geleitet, in einigen Fällen, so vermuten Menschenrechtsorganisationen, sogar zurückgeschickt. Dokumente werden seitdem weder ausgestellt noch verlängert, auch nicht für die in Nepal geborenen tibetischen Nachkommen. Und so sitzen Menschen wie Lobsang bis heute in Nepal fest. Ohne Papiere können sie nicht reisen – und damit auch nicht nach Tibet zurückkehren.

Das bestimmende Gefühl ist Aussichtslosigkeit

Lamo Namgang dürfte zurück, sie hat einen nepalesischen Pass. Aber sie will nicht. Nicht so lange die Chinesen in Tibet an der Macht sind. Die 65-Jährige wurde in Lhasa geboren. Ihre Eltern starben kurz nach dem Einmarsch der chinesischen Armee. Und so machte sie sich 1959 allein mit ihren zwei Brüdern und zwei Schwestern auf den beschwerlichen Weg über das Himalaya-Hochland. Zwei Monate habe die Flucht gedauert. „Wir waren Kinder und haben uns ständig verlaufen“, sagt sie. Drei Jahre ging sie in Nepal zur Schule, dann fing sie an, zu sticken und zu weben. Heute verkauft sie selbstgestrickte Socken und Mützen auf einem Marktplatz unweit von Lobsangs Klosters, im Herzen von Tashi Palkhiel, der ältesten der vier tibetischen Siedlungen bei Pokhara. Das Viertel entstand Anfang der 1960er Jahre, zunächst als provisorisches Zeltlager; mit nationaler und internationaler Hilfe, unter anderem der Schweizer Regierung, wurde daraus eine feste Siedlung. Rund 1000 Menschen leben heute hier, in kleinen pittoresken Häusern mit weißen Fassaden. Es ist sauber und gepflegt. Und doch, hört man sich hier um, ist das bestimmende Gefühl Aussichtslosigkeit.

„Wir gelten in Nepal als Menschen zweiter Klasse“, sagt Tenzin Urgyen, ein 23-jähriger kräftiger Mann mit tätowierten Oberarmen und Dreadlocks, der mit seinen Freunden ein paar Meter weiter Fußball spielt. Sein Vater wurde in Tibet geboren, seine Mutter kam auf der Flucht nach Nepal zur Welt. Er selbst wurde hier geboren, in Tashi Palkhiel. Zehn Jahre ging er in eine tibetische Schule. Heute arbeitet er, wie viele seiner Freunde, ohne offizielle Genehmigung in einem Restaurant, verkauft Souvenirs in den Bergen. „Es gibt nur wenige junge Tibeter, die studieren können. Unsere Jobaussichten sind schlecht. Ohne Papiere hat man keine Chance“, sagt der junge Mann. Aber Tenzin lehnte sich auf. Als es im März 2010 zu Protesten in Kathmandu kam, waren auch er und seine Freunde dabei – und wurden inhaftiert. Seitdem habe es Hungerstreiks und eine steigende Zahl von Selbstverbrennungen gegeben, öffentliche Demonstrationen aber seien die Ausnahme. Zu groß sei die Furcht vor Repressionen, im Land herrsche „ein Klima der Angst“.

Ein Eindruck, den Kai Müller, Geschäftsführer der International Campaign for Tibet (ICT) in Deutschland, bestätigt: „Die Situation der Tibeter in Nepal hat sich drastisch verschlechtert, insbesondere im Zuge der 2008 ausgebrochenen Unruhen in Tibet.“ Müller spricht von Einschränkungen der Versammlungs-, Religions- und Meinungsfreiheit. So sei es Exiltibetern unter anderem verboten, den Geburtstag des Dalai Lama öffentlich zu feiern und tibetische Riten zu zelebrieren. Auch staatliche Überwachung und willkürliche Verhaftungen hätten zugenommen.

Leben in der „Sandwich-Situation“

Das Problem ist Nepals geographische und politische Lage – die „Sandwich-Situation“, wie Gopal Krishna Siwakoti, Präsident der nepalesischen Menschenrechtsorganisation INHURED international, es nennt: „Das kleine Land Nepal liegt eingeklemmt zwischen zwei großen Nationen, China und Indien. Wenn Nepal die tibetischen Flüchtlinge anerkennt und ihre Rechte stärkt, ist das ein deutlicher Schlag gegen die chinesische Regierung. Daher schreckt unsere Regierung davor zurück.“ Immer wieder lasse die Führung in Peking verlauten, dass sie keine pro-tibetischen Strömungen in Nepal toleriere. Siwakoti spricht von „allen Arten von politischen Drohungen“, die China auf Nepal ausübe. „Wir sind von China abhängig, sowohl finanziell als auch politisch. Unsere Regierung demonstriert mit ihrer Politik immer wieder, dass Nepal nicht stark genug ist, um unabhängig zu existieren.“ Indien hingegen, wo heute die meisten Exiltibeter leben, wolle die ohnehin schon komplizierten Beziehungen zu China nicht noch weiter belasten.

Und so geraten Menschen wie Tenzin zwischen die Mühlen dreier Staaten – gefangen in für sie fremden Ländern. Denn obwohl Tenzin Tibet nie gesehen hat, ist es für ihn doch sein Heimatland. Freundschaftliche Kontakte zu den nepalesischen Nachbarn bestünden zwar, tiefe Bindungen aber gebe es nicht. Die scheiterten nicht zuletzt aufgrund der Sprachbarriere; Tenzin spricht Tibetisch, sein Nepalesisch ist bruchstückhaft. Ob er Wünsche hat? Nur zurück nach Tibet, sagt er. Das habe er schon in der Kindheit so gelernt.

„Wir sollten den Nepalesen dankbar sein“

Aber es geht auch anders. Keine 200 Kilometer entfernt, in Kathmandu, ist der Ton schon gemäßigter. „Ich bin hier geboren und lebe hier – also bin ich auch Nepalese“, sagt Tashi Tsering im Garten seines Shechen Guest Houses. Der 36-jährige Hotelier ist groß und stämmig, hat buschiges, wildes Haar, seine Hände sind ständig in Bewegung, wenn er spricht. Auch Tashi ist Nachfahre tibetischer Flüchtlinge, aber einer mit nepalesischem Pass.

Tashi hatte Glück. Seine Siedlung, Jorpati Khampa, habe sich in den 1970ern „gut gestellt“ mit der nepalesischen Regierung, habe den Kontakt gesucht, sich engagiert, sagt er. Und so erhielten die meisten Bewohner nepalesische Pässe. Viele von ihnen hätten heute gut bezahlte Jobs, die Siedlung stehe finanziell deutlich besser da, als viele andere tibetische Enklaven im Land. Aber das hatte seinen Preis: In der tibetischen Gemeinschaft sei der Kurs der Siedlung damals nicht gern gesehen worden. Tashi spricht von Spannungen mit anderen Siedlungen in Nepal, aber auch mit der tibetischen Exilregierung in Indien. Viele hätten die Siedler als „Verräter“ am Heimatland gesehen.

Tashi indes fühlt sich angekommen in Nepal. Er ist verlobt mit einer Nepalesin, hat Arbeit, kann reisen. „Wir sollten den Nepalesen dankbar sein“, sagt er. „Immerhin haben sie uns aufgenommen und wir bezahlen nichts für das Land, auf dem wir leben“. Er sieht Kooperation als einzigen Weg: Sich im Land zu engagieren – und zu integrieren.

Auch Kai Müller von der ICT (International Campaign for Tibet) spricht von den „historisch engen Bindungen zwischen Tibet und Nepal“. Die derzeitige, von Misstrauen geprägte Beziehung beider Völker sei eine „Anomalie“. Doch so lange Nepal wirtschaftlich und politisch von China abhängig bleibt und China die Forderung der tibetischen Exilregierung nach Autonomie der tibetischen Gebiete ablehnt, wird sich daran vermutlich wenig ändern.

Und so bleibt den Exiltibetern nur die Möglichkeit, sich mit der Situation zu arrangieren. Jeder auf seine Weise. So unterschiedlich ihre Ansichten dabei auch sind, in einem sind sie sich jedoch einig: in der Verurteilung der unrechtmäßigen Aneignung Tibets durch die Chinesen. Das sieht der traditionsbewusste Schulsekretär Lobsang aus Pokhara so, und das sieht der gut integrierte Hotelier Tashi aus Kathmandu so. Und so sahen sie das auch schon früher. Die beiden gingen gemeinsam zur Schule. Sie sind Freunde, seit Jahren schon.

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