Transsexuelle Prostituierte in Griechenland

Diorella

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Stell dir vor, dein Land leidet unter der schlimmsten Krise seit Jahrzehnten und du bist eine in die Jahre gekommene, transsexuelle Prostituierte. Willkommen in Diorellas Leben. In Griechenland verteilt sie tagsüber Essen an Bedürftige und verkauft nachts ihren Körper. Doch wegen der Wirtschaftskrise geht auch dieses Geschäft schlecht.

Diorella hockt auf dem Boden, vor sich einen Haufen weißer Plastiktüten. Ihr blondes Haar fällt ihr über die Schultern, emsig füllt sie die einzelnen Tüten mit Lebensmitteln.

Jeden Mittwoch sortiert die Griechin Essensspenden, die an bedürftige Menschen aus der Transcommunity verteilt werden. Im Namen der Greek Transgender Association GTGA engagiert sich Diorella für die «am meisten gefährdete Minderheit im Land während der Krise», wie sie selbst sagt.

Die 88 Mitglieder der Gruppe bezahlen monatlich einen kleinen Solidaritätsbetrag, um die Miete eines Büros zu bezahlen. Aus diesem Topf kann Diorella auch mal Geld nehmen, um die Säcke in nicht ganz so guten Zeiten aufzufüllen.

Neben der Essensverteilung engagiert sich die Sechzigjährige wie ihre anderen Kolleginnen und Kollegen aus der Transcommunity auch auf Demonstrationen oder an Veranstaltungen für eine Verbesserung ihrer rechtlichen Situation.

Diorellas Arbeit für die GTGA ist ehrenamtlich. Über die Organisation, die seit 2010 in dieser Form existiert, fand ich den Kontakt zu ihr.

Grenzschließung verhindert Geschlechtsumwandlung

Diorella wuchs in den Fünfzigerjahren in Athen auf. Mit ungefähr 13 Jahren, sagt sie, realisierte sie ihre weibliche Geschlechtsidentität und führte während ihrer Pubertät eine Beziehung mit einem Mann.

Damals organisierte sich Diorella einen Termin beim Gynäkologen Dr. Georges Bouru in Casablanca, einem Pionier der geschlechtsangleichenden Operationen und international bekannt in der Szene. Sie konnte den Termin jedoch nicht wahrnehmen, da die Militärdiktatur in Griechenland die Grenzen abriegelte.

Diorella hatte keine andere Wahl, als sich diesem Schicksal zu fügen. Risikolos wäre sie nicht über die Grenze gekommen. Einen neuen Versuch machte sie nicht, ihre Umwandlung wurde daher nie vollzogen.

Ich durfte Diorella bei unserem Treffen in ihre Wohnung begleiten. Sie besitzt zwei kleine Wohnungen in Athen. In der einen lebt sie, die andere nutzt sie zum Arbeiten – seit einigen Jahren muss Diorella ihren Lebensunterhalt mit Prostitution finanzieren und sagt dazu nur: «Was soll ich sonst noch arbeiten?»

Diese Zweitwohnung vermietet sie an andere Frauen weiter. Durch die wirtschaftliche Krise in Griechenland leidet auch die Prostitution. Ein Kunde, der vorher bis zu zwei Mal die Woche bei ihr war, komme heute nur noch alle zwei Monate.

Ein Leben der Lust

Die Wohnung, in der Diorella wohnt, ist ein Museum der Erinnerung. Überall hängen Bilder von Menschen, Porträts, die meisten schwarz-weiss. In filigranen Goldrahmen zieren Babykleider die Wände, Diorellas Schränke sind vollgehängt mit Kostümen aus ihren jüngeren Jahren.

Diorella arbeitete jahrelang als Tänzerin und Entertainerin in diversen Clubs und Cabarets in Athen und auf den griechischen Inseln.

Ihr größter Wunsch war es schon als Jugendliche, eine Schauspielschule zu besuchen. Sie schwärmt für die großen Stars der Sechziger Jahre – Marlon Brando, Greta Garbo, Brigitte Bardot. Doch ihre Mutter erlaubte ihr diesen Weg nicht.

So erlernte Diorella den Beruf der Dekorateurin und versuchte, sich das Geld für die Schauspielschule selbst zu verdienen. In den Achtzigerjahren lernte sie in Athen eine Frau kennen, die ihr Tanz und Schauspiel näher brachte.

Diorella ist eine selbstbewusste Frau, eine Persönlichkeit, die weiß, was sie will. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Geschichte und steht zu sich.

Die Schwester erbte zwei Häuser, sie nichts

Als ich die Griechin freitags auf den Markt begleite, trägt sie einen bunten Kaftan über einer orangefarbenen Hose. Ihre Einkaufstasche ist farblich darauf abgestimmt, ihre Augen sind verdeckt von einer übergroßen Sonnenbrille, ihr Haar ist frisch frisiert.

Diorella ist eine auffällige Erscheinung, auch auf dem vollen Markt. Aber genauso freundlich wie sie selbst ist, wird sie auch bedient. Sie lacht mit den Leuten an den Marktständen und erledigt ihre Einkäufe mit Gelassenheit. Man kennt sie hier. Sie kauft immer freitags kurz vor Marktschluss ein, weil Obst und Gemüse dann weniger kosten.

Als ihre Mutter starb, vererbte diese zwei Häuser an Diorellas Schwester, sie selbst ging damals leer aus. „Mir wird nichts geschenkt“, sagt sie.

Und trotzdem sagt sie mit Bestimmtheit, dass sie eine gute Mutter gehabt habe. Auch zur Schwester hat Diorella ein gutes Verhältnis – deren Tochter lebt mit Familie in Athen, der Sohn mit sechs Kindern in Amerika.

Lebensfroh trotz Polizei-Schikanen

Diorellas Nichte besucht sie regelmässig mit ihren vier Kindern, sie kennen ihre Geschichte. Auch ausserhalb ihrer Familie und der Transcommunity pflegt sie viele Freundschaften mit Leuten, die sie kennt «seit wir Babies sind».

Diorella ist eine positive, lebenslustige Frau. Nach der Diktatur in Griechenland gönnte sie sich einige Fernreisen, sie holte den ersehnten Schauspielunterricht nach. Es ist ihr wichtig, liebevoll und sozial gut integriert zu sein.

In ihren Erzählungen tauchen aber auch immer wie der Geschichten von Widrigkeiten auf, die nicht nur auf einer wirtschaftlich schwierigen Lage beruhen.

Beispielsweise wenn sie davon erzählt, wie sie als Prostituierte manchmal von der Polizei mit Absicht festgehalten und von Freitag bis Montag eingesperrt wurde, um ihr die lukrativen Wochenenden zu vermiesen.

Doch auch damit hat Diorella gelernt zu leben, so schnell haut sie nichts um. „Meine Verrücktheit hält mich am Leben“, sagt sie und lacht schallend.


Während acht Jahren hat der Fotograf Martin Bichsel 11 Transmenschen in der Schweiz, Europa, Japan, Sibirien und Nordafrika in deren Alltag fotografiert und die Lebensgeschichten notiert. Das Ergebnis – ein Bild- und Textband – soll Zugang schaffen zu einem Thema, bei welchem zu oft weggeschaut und stigmatisiert wird: zum Buch.

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