Namibia: Namib-Wüste

„Die großen Tiere sind am faulsten“

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Beim Wandern in der Namib-Wüste in Namibia kann der Mensch sowohl die absolute Stille, als auch die Lebenskraft der Natur erleben. Unser Autor Felix Mescoli hat es ausprobiert. Eine Wanderung durch eine trockene, aber lebendige Welt.

Dass die Wüste lebt, ist spätestens seit dem gleichnamigen Tierfilm von James Algar, der 1953 zum Welterfolg wurde, kein Geheimnis mehr. Dass aber ausgerechnet ein so ungastliches Exemplar wie die Namib an der Westküste des südlichen Afrika, mit Tagestemperaturen von bis zu 50 und Nachttemperaturen unter 0 Grad, jahrzehntelangen Trockenperioden, regelmäßigen Sandstürmen und turmhoch aufragenden Dünen, ein derart geschäftiges kleines Ödland ist, dass war vor der dreitägigen Wanderung über den feinen, rostroten Sand nicht zu erwarten.

Schließlich bedeutet die Bezeichnung Namib in der Sprache des dort lebenden Nama-Volkes „Ort, wo nichts ist“ oder „Leerer Platz“. Und die Leute werden sich bei der Namensgebung ja irgendwas gedacht haben.

Himmel oder Hölle

„Ein Freund hat mir einmal gesagt, hast du Essen und Wasser, ist die Wüste der Himmel auf Erden. Wenn nicht: die Hölle“, erzählt Ueeraije Tjambiru fröhlich. Als Führer nimmt er die Wandergesellschaft am Ausgangspunkt der dreitägigen Ödland-Tour auf dem Tok Tokkie-Trail, einem ehemaligen Farmhaus sechs Autostunden südlich der namibischen Hauptstadt Windhoek, in Empfang. Unbarmherzig brennt die Mittagssonne auf das trockene Grasland ringsum. Im Schatten auf der Terrasse ist es angenehm kühl, dennoch schenke ich mir aus dem bauchigen Krug vorsorglich noch einmal Zitronenlimonade nach. Eiswürfel klirren gegen Glas. Aaaahh.

Am Tisch unter dem schützenden Vordach hat sich unsere sechsköpfige Reisegruppe versammelt;  Frischverheiratete aus dem flämischen Teil Belgiens auf Hochzeitsreise, saturierte Eheleute aus einem Pariser Vorort auf der Flucht vor dem Stress der Großstadt, der Schreiber nebst Reisebegleitung. Tjambiru, den alle nur Domingo nennen, gibt letzte Verhaltensmaßregeln: beim Laufen den Untergrund im Auge behalten – wegen giftiger Kriechtiere, ausreichend trinken, einen Hut aufsetzen und, auf jeden Fall, statt kurzer Hosen lange tragen.

Schnell noch die Wasserflaschen auffüllen, dann kommt schon der Marschbefehl. Hintereinanderweg, in Gänseformation dem kräftig ausschreitenden Führer folgend, geht es weg vom Farmhaus, weg von der Zivilisation, hinaus aufs unendlich scheinende Dünenmeer, dem Unbekannten entgegen.

Durch messerscharfe Halme

Aus dem Unbekannten heraus materialisiert sich zunächst hüfthohes Gras. Denn hier, an der Grenze des Namib-Rand-Naturreservats, zusammengefasst aus fünf ehemaligen Farmen, mit 172.000 Hektar einem der größten privaten Naturschutzgebiete Afrikas, sind die Dünen bewachsen. Die messerscharfen Halme ritzen bei unvorsichtiger Berührung sofort die Haut, schnell sind Hände und Unterarme mit juckenden Kratzern übersät. Gebahnte Wege gibt es auf dem Tok Tokkie-Trail nicht. Trotz der brütenden Hitze bin ich plötzlich sehr dankbar für meine langen Hosen.

„Das ist Namib Dünengras“, erklärt Domingo, den Bewuchs mit seinem Wanderstock zur Seite drückend. Auf gar keinen Fall zu verwechseln mit dem sehr ähnlichen Kalahari Dünengras! Was denn der Unterschied sei? Das Namib Dünengras wachse nur hier, sagt Domingo lakonisch, das Kalahari Dünengras nur in der mächtigen Sandwüste weiter im Norden. Eigentlich logisch.

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Wüstenführer Domingo. Foto: Felix Mescoli

Überall dagegen wächst das sich abgerolltem Natodraht ähnelnde Straußengras. „Ein Gras mit Attitüde“, wie Domingo lachend erklärt. Ein weiterer Pluspunkt für die langen Hosen. Wie handhaben das nur die in sicherer Entfernung vorbeiziehenden Spießböcke? Die mieden die Stachlbewehrten Halme und hielten sich an zartere Gräser,  berichtet der Guide.

Auf der Suche nach der weißen Lady

„Stopp!“, ruft Domingo unvermittelt und deutet mit seinem nun als Zeigestab dienenden Stock auf einen etwa Centstück großen Punkt im Sand. Der Eingang zum Bau einer Radspinne. Er markiert die Öffnung mit einem Grashalm und schiebt den Sand mit den Händen vorsichtig beiseite. Nach einigem Wühlen fördert er einen fast zehn Zentimeter langen Schlauch  aus seidigem Gespinst zu Tage. Im Inneren lauert üblicherweise das gespenstisch bleiche Insekt, auch „White Lady“ genannt. Lässt sich ein Beutetier verleiten, das Nest zu betreten, zieht es mit einem Faden, zack, die Falltür zu.

Doch der Bau ist verwaist. Domingo zeigt auf ein Gewirr von Linien im Sand, Spuren. „Eine Eidechse kam vorbei, es gab einen Kampf mit der Spinne“, erläutert er die winzigen Abdrücke. Vielleicht habe das Reptil das Insekt vertilgt, vielleicht war es aber auch umgekehrt. Domingo zuckt die Schultern. „First come first serve“, sagt er. „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Das sei eben das Gesetz der Wüste.

Im Nachtlager

Nach knapp zwei Stunden Fußmarsch erblicken wir in einer Senke das Nachtlager. Domingo teilt die Unterkünfte zu. Zwischen den Dünen sind paarweise Feldbetten aufgestellt, jeweils im gebührendem Abstand zum nächsten „Doppelzimmer“. Darunter ein kleiner Teppich, so dass niemand sandigen Fußes in die dicke Bettrolle kriechen muss. Daneben eine Gepäckablage – die Reisehabseligkeiten werden von der Begleitmannschaft transportiert –, ein Beistelltischchen, ein Kanvas-Waschbecken. Darüber: das Himmelszelt.

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Dopppelbett unter freiem Himmel. Foto: Felix Mescoli

Wer möchte, kann sich in der Wüstendusche vom mehlfeinen Staub befreien. Faktotum Willie Lammert, dessen Name so deutsch wie seine äußere Erscheinung afrikanisch ist, füllt dafür warmes Wasser in den im Geäst eines der wenigen Bäume baumelnden Eimer. Daran ist ein Duschkopf befestigt. Als Sichtschutz dient zum Lager hin eine Bretterwand, an den übrigen drei Seiten herrscht freie Sicht. Einerlei, die einzigen Beobachter weit und breit sind die spatzengroßen Webervögel. Und so dicht beieinander wie deren Hängenester in den Akazienkronen angebracht sind, scheren sie sich nicht um Intimität.

Nichts für Zimperlieseln ist auch die Toilette. Sie ähnelt solchen auf Rockfestivals, allerdings fehlen Dach und Tür. Auf letztere allerdings verzichtet man an erhöhter Stelle thronend angesichts der Aussicht gerne. Vor dem Auge liegen sich nahezu unbeschränkt ausbreitende Grasflächen, nur am rechten Rand des Gesichtsfeldes begrenzt von in der Abendsonne blaurot schimmernden Bergen. Auf Neudeutsch nennt man das wohl einen „Wow-Moment“.

Die Welt ist weit weg

Vor dem Dinner vertreibt ein Sundowner auch die letzten verbliebenen Schatten von Alltagssorge. An der ebenfalls im Freien aufgestellten Tafel reichen Willie und Feldköchin Jawnestie Springbock Stroganov mit grünen Bohnen. Die Gäste plaudern über Politik. Die Belgier beteuern, dass die Regierung in Brüssel, die nach mehr als einem Jahr politischer „Kopflosigkeit“ unter Ministerpräsident Di Rupo die Arbeit aufgenommen hat, nicht bloß eine Fata Morgana sei. Die Franzosen berichten vom Wahlsieg des Sozialisten François Hollande. Doch in der Wüste ist das alles irgendwie weit weg, nicht nur geografisch.

In der Nacht will sich der Schlaf nicht einstellen. Ob das nun an den dem Mitteleuropäer ungewohnten Sternbildern der südlichen Hemisphere oder der völligen, nahezu in den Ohren dröhnenden, Stille in der Namib liegt? Jedenfalls: kein Tier, kein Vogel, kein Insekt ist zu hören. Nichteinmal der Wind, geschweige denn ein Auto. Absolute Ruhe.

Allerdings endet die Nachtruhe schon vor Sonnenaufgang. Domingo steht mit einer heißen Tasse Kaffee am Feldbett, Willie füllt warmes Waschwasser ins Becken. Purer Luxus nach der eisigen Wüstennacht. Das Frühstück wartet schon, Domingo drängt zum Aufbruch noch vor der Hitze des Tages. Doch Stop! Erst Schuhe ausklopfen, falls hier ein Wüstenbewohner vor der nächtlichen Kälte Unterschlupf gesucht hat.

Feen in der Einöde

Um sieben ist auch der Letzte startbereit. Während des Vormittags erklimmen wir den Hufeisenberg. Der steile Weg führt über Stock und Stein – hauptsächlich Stein, denn an Stöcken herrscht Mangel in der felsigen Einöde. Größere Tiere, sogar Pferde leben hier, zeigen sich nicht, nur deren Hinterlassenschaften. Die der mächtigen mannshohen Oryxantilope etwa sind kaum größer als Hasenköttel. Das spare Flüssigkeit, sagt Domingo. Anders als ein in seiner Wässrigkeit nahezu verschwenderischer Kuhfladen.

Nach dem Abstieg wartet die nächste Überraschung. Die Grasflächen, durch die das trockene Flussbett führt, das nun als Weg dient, sind übersät mit kahlen runden Flächen. Warum in diesen sogenannten Feenkreisen nichts wächst, ist nicht abschließend geklärt. Im Verdacht stehen laut Domingo Erntetermiten, die im Umfeld ihres Nests das Gras abfressen, giftige Gase und: Feen.

Nach einer von der unerhörten Stille diesmal weniger beeinträchtigten Nachtruhe gibt es als Morgenlektüre die „Wüstenzeitung“. Ihre Seiten sind eng bedruckt, die Schrift schwer zu lesen. In Zentimeterabstand ist der orangene Untergrund übersäht mit gewundenen Linien, geraden Strichen, spitzen Zacken und winzigen Punkten, in Einzel- und Doppelreihen.

Tierische Geschichten

Domingo liest vor: Von ihren Abenteuern berichten die beinlose Glattechse, der unter Tage lebende Goldmull, ein bedächtiger Gecko, die stets scharfzüngige Kapkobra, der wie immer schmutzige Wäsche waschende Mistkäfer, die naseweise Wüstenmaus und natürlich, der flinke Vielschreiber und Namenspatron unserer Unternehmung, der langbeinige Tok Tokkie-Käfer. „Seht ihr, die großen Tiere sind faul, aber die kleinen Tiere, die sind immer aktiv“, sagt Domingo. Recht hat er. Ein sehr lebendiges Blatt diese Wüstenzeitung, kein Zweifel.

Nach dem Zeitungsstudium schreitet Domingo weiter zügig voran über die jetzt unbewachsenen Dünen. Ich lerne, eine Düne zu erklimmen, ist wie eine Rolltreppe entgegen der Laufrichtung hochsteigen. Eine ziemliche Sysiphos-Aufgabe, wegen des stets nachgebenden Sandes. Auf dem Kamm holt Domingo einen Magneten aus der Tasche und zieht ihn über den Sand. Schwarze Eisenpartikel bleiben wie Schuppen daran haften.

Der Sand komme aus den Drakensbergen im Osten Südafrikas, erklärt Domingo und beginnt mit dem Stock eine Karte auf den Boden zu zeichnen. Von dort hat ihn der Oranje-Strom, der an seinem Unterlauf die Grenze zu Namibia bildet, gut zweitausend Kilometer in seinen Fluten mitgeführt.

Gigantischer Sandkasten

An der Flussmündung hat der Benguela-Meeresstrom die Sedimente mitgerissen und weiter im Süden wieder an Land gesspühlt. Von dort hat der Südwestwind die feinen Körner landeinwärts getragen und so, nach und nach, diesen 95.000 Quadratkilometer großen Sandkasten angelegt, durch den unsere Gruppe seit zwei Tagen stapft.

„Sowas geschieht natürlich nicht über Nacht“, sagt Domingo beflissen. Im Gegenteil: 80 Millionen Jahre habe das gedauert. „Es heißt, die Namib sei die älteste Wüste der Welt“, fährt er fort.

Respektvoll schauen die Zuhörer auf die in den alten Sand gezogenen Linien der Karte. Schon morgen wird sie der Südwestwind verweht haben. Schließlich wird der leere Platz gebraucht für die neueste Ausgabe der Wüstenzeitung. An Neuigkeiten herrscht kein Mangel. Denn die Wüste lebt.

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