Prostitution in Mexiko

Ruhesitz für verwelkte Blumen

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In der Altstadt von Mexico City befindet sich das weltweit einzige Altersheim für Prostituierte. Im sogenannten „Haus der schönen Blumen“ sollen die Sex-Arbeiterinnen in Würde altern können. Manche der in die Jahre gekommenen Damen bieten sich immer noch ihren Freiern an.

Nur selten verirren Touristen sich in die engen Gassen rund um den Plaza San Sebastián in Mexico City. Obwohl der Platz nur wenige Minuten vom historischen Zentrum entfernt liegt, wirkt das Viertel heruntergekommen und schäbig. In Tepito regiert das Gesetz der Straße: Fliegende Händler preisen lautstark Plastikramsch und Süßigkeiten an, auf Bordsteinkanten hocken Obdachlose, dazwischen türmen sich Müll und Essensreste. Drängelnde Passanten schieben sich an den Marktschreiern vorbei, leicht bekleidete Frauen halten nach Freiern Ausschau.

Neben dem Irrsinn auf der Straße liegt eine unscheinbare hölzerne Doppeltür mit einem Metallknauf. „Buenas?“, beantwortet ein Türsteher zögerlich das Klopfen. Er beschützt die Bewohnerinnen des zweistöckigen Hauses vor neugierigen Blicken und dem Elend der Straße. Diejenigen, die er eintreten lässt, gelangen in einen ruhigen, überdachten Innenhof – in der Mitte plätschert ein Brunnen, um den sich grüne Pflanzen ranken. Draußen wird unaufhörlich weiter gedrängelt, gegrapscht, geklaut. Drinnen sticken alte Damen, schweigen oder starren in die Luft.

Doch es sind keine typischen Altersheim-Bewohnerinnen, die hier ihren Lebensabend verbringen. Alle Frauen, die hier leben, haben als Prostituierte gearbeitet – oder tun es immer noch. Geschäftsführerin Jesica Vargas González winkt uns in ihr Büro herein. „Unser Projekt ist weltweit einzigartig“, erzählt sie stolz. Hinter ihrem Schreibtisch ranken sich die Portraits der Bewohnerinnen.

Derzeit residieren 27 Seniorinnen zwischen 50 und 81 Jahren im Casa Xochiquetzal, was auf Deutsch so viel wie „Haus der schönen Blumen“ bedeutet. Viele der Frauen arbeiteten direkt im Bezirk Tepito, vor den Türen ihres jetzigen Altersruhesitzes. Auf den Straßen der Acht-Millionen-Metropole verdienten sie ihr Geld mit erotischen Dienstleistungen. Doch als ihre jugendlichen Reize schwanden, mussten viele erkennen: In der mexikanischen Konsumgesellschaft haben auch Prostituierte ein Ablaufdatum, sobald die Haut runzelig wird.

Aus einem Box-Museum wird ein Altersheim

Die Idee für die Casa Xochiquetzal wurde 2001 geboren: Carmen Muñoz, die ihr Geld selbst einst als Sexarbeiterin verdiente, war schockiert vom Elend ihrer früheren Kolleginnen. Verstoßen von ihren Familien, sah sie einige von ihnen auf der Straße schlafen, zugedeckt nur mit einer Plastikplane – im Stich gelassen von der Gesellschaft. Die betagten Damen mussten sich ein paar Münzen für eine warme Mahlzeit erbetteln oder in Mülleimern wühlen. Berührt von dem, was sie sah, beschloss Carmen Muñoz ihnen einen sicheren Unterschlupf zu schaffen.

Die Geschäftsführerin Jesica Vargas in ihrem Büro.
Mama Ede: Die Beschäftigungstherapeutin Edelmira Lomeli Hurtado, auch genannt Mama Ede, unterstützt die Bewohnerinnen, wo sie kann.
Rosa Belen beim Sticken. (l.) Concepción ist stolz auf ihre Stickerei: Sol steht für die Sonne Mexikos. (r.)
Celia ist gern in Gesellschaft. (l.) Gloria hat dreizehn Kinder von vier verschiedenen Männern. (r.)
Canela geht mit einem fremden Hund spazieren. (© Bénédicte Desrus)
Amalia in ihrem Schlafzimmer. (© Bénédicte Desrus)
Victoria besucht ihre Tochter in Pachuca.

Nach langer Lobby-Arbeit unterstützte die Stadtregierung Carmen Muñoz dabei, das Projekt Casa Xochiquetzal zum Leben zu erwecken. Der damalige Bürgermeister stellte das Gebäude zur Verfügung – ein zweistöckiges Stadthaus aus dem 18. Jahrhundert. Einst beheimatete es ein Box-Museum, nun wurde es zum Altenheim für Prostituierte umgebaut.

Carmen Muñoz restaurierte das Gebäude mit der Unterstützung von anderen Aktivistinnen und Helferinnen. Monatelang schrubbten die Frauen die Böden, bauten Backöfen und Badezimmerarmaturen ein und besorgten günstige Möbelstücke. Seit 2006 ist die Casa Xochiquetzal Heimat für die „schönen Blumen“. Betagte Prostituierte, für die Gesellschaft unsichtbar geworden, erhalten hier Unterschlupf, Nahrung und medizinische Betreuung. Die Sozialarbeiterin, die von allen hier Mama Ede genannt wird, hilft ihnen dabei, Papiere und Identitätsnachweise zu besorgen – in der mexikanischen Bürokratie oft ein erster Schritt zurück ins Sozialsystem und in ein geregeltes Leben. Das Projekt ist von Spendengeldern abhängig. „Die Suche nach Geldgebern ist aber schwierig“, seufzt Jesica Vargas. „Im katholischen Macho-Land Mexiko spenden die Menschen eben lieber für kranke Kinder als für alte Prostituierte.“

Aus ehemaligen Konkurrentinnen werden Mitbewohnerinnen

Die Bewohnerinnen sind gastfreundlich. Dem Besuch aus Deutschland präsentieren sie stolz ihr eigenes Heim: die Küche, zwei Fernsehräume, Badezimmer, die einzelnen Schlafräume. „Ich bin so stolz, hier leben zu dürfen“, erklärt Amalia, die durch ihr kleines Reich führt und sich wegen des Chaos in ihrem Zimmer keine großen Gedanken zu machen scheint. Für Ordnung und Sauberkeit in den privaten Zimmern sind die Frauen selbst zuständig. Die wenigen persönlichen Gegenstände, die sie besitzen, pinnen sie stolz an die Wände: Fotografien, Stickereien, Heiligenbilder. „Viele Frauen hier sind sehr religiös“, erzählt Jesica Vargas.

Der Alltag in der Casa Xochiquetzal nimmt derweil seinen Lauf.Aus einem alten Radio klimpern mexikanische Chansons, sie erzählen von Herzschmerz und der großen Liebe. An die wahre Liebe glauben hier in der Casa Xochiquetzal nur die wenigsten. Die meisten stolperten Zeit ihres Lebens von einer kaputten Beziehung in die nächste oder wurden von ihren Männern zur Prostitution gezwungen. Die Frauen sind über die Jahre dickhäutig geworden, ihr Ton ist rau. Eine wichtige Regel lautet deshalb: Respekt voreinander. Die Bewohnerinnen sind Schicksalsgenossinnen, aber eben auch ehemalige Konkurrentinnen – manche Konflikte schwelen bis heute und machen ein harmonisches Zusammenleben schwierig.

Auf Plastikstühlen sitzt eine Gruppe Frauen im Innenhof und stickt traditionelle Muster in Kissenbezüge. Die Stimmung ist entspannt und erinnert fast an ein gewöhnliches Altenheim. Doch der Schein trügt. Eine grauhaarige Frau wimmert in das Telefon auf dem Flur, Tränen rinnen ihre ledrigen Wangen hinunter. Viele der Frauen wurden von ihren Kindern, Enkeln und Geschwistern verstoßen – aus Scham oder Unsicherheit. An ihrem Lebensabend sind sie nun alleingelassen. Doch sie haben zumindest ein Dach über dem Kopf – anders als viele andere Prostituierte, die auf Mexikos Straßen schlafen müssen und keinen Schutz haben vor Gewalt und ökonomischer Unsicherheit.

Keine Männer, keine Drogen

Die Aufnahmekriterien für das einzigartige Altersheim sind simpel: Wer einen Schlafplatz möchte, muss über fünfzig sein, als Prostituierte gearbeitet haben und keine Unterstützung von seiner Familie bekommen. Die meisten Frauen haben über Mundpropaganda von dem Projekt erfahren. Einmal eingezogen, müssen sie sich an einige Regeln halten: Keine Männer, keine Drogen. Das eigene Zimmer sauber halten und in der Küche helfen. Das wöchentliche Treffen besuchen. Bis spätestens zehn Uhr abends zu Hause sein. Wer länger aus ist, muss eine Adresse und eine Telefonnummer zurücklassen. Gewissenhaft tragen sich die ehemaligen Sexarbeiterinnen deshalb in ein dickes Buch ein, das am Eingang bereit liegt. „Das ist nicht für alle einfach“, erzählt Jesica Vargas. „Viele haben ihr ganzes Leben lang ohne gewohnte Strukturen verbracht.“ So verwundert es nur auf den ersten Blick, dass manch eine Bewohnerin sich nach einigen Monaten wieder davonstiehlt und das raue Straßenleben dem gemachten Bett vorzieht.

Allen Bewohnerinnen ist es freigestellt, ob sie ihren Beruf als Prostituierte weiterführen wollen oder nicht. Nur die Schwelle zur Casa Xochiquetzal darf keiner der Männer übertreten. Norma, eine der Bewohnerinnen, besucht immer noch gerne ihr altes „Büro“, einen verlotterten Platz ganz in der Nähe, wo sich Prostituierte und Freier treffen – und Norma noch gut bekannt ist. Norma fühlt sich geehrt, wenn insbesondere jüngere Männer Interesse an ihr zeigen. Andere, wie Canela, verkaufen lieber Süßigkeiten, um sich ein bisschen Kleingeld für Make-up oder Softdrinks zu verdienen.

Manche Schicksale der Frauen lassen einen ratlos-bedrückt zurück, wenn man sie erzählt bekommt. Canela, eine der ältesten Bewohnerinnen des Hauses, leidet am Down-Syndrom. Schon als Kind wurde sie von ihrem Stiefvater missbraucht. Heute ist sie glücklich, ein sicheres Dach über dem Kopf zu haben. „Sie ist die glücklichste im Haus“, erzählt Jesica Vargas. Viele der Frauen sind schwer krank, einige haben Aids. So wie Conchita, die bei ihren Großeltern aufwuchs und bereits mit dreizehn Jahren in die Fänge des Prostitutionsgewerbes geriet. Die mollige Ein-Meter-Vierzig-Frau ist froh, dass sie in der Casa Xochiquetzal die nötigen Medikamente bekommt.

Jesica Vargas ist täglich mit solch traurigen Schicksalen konfrontiert. Doch die Begegnungen mit den Frauen machen sie nicht kaputt, wie sie erzählt. Im Gegenteil. „Es macht mich stark, weil die Frauen so stark sind“, sagt sie. Trotz der sehr traurigen Geschichten würden die Frauen tagtäglich Stärke, Liebe und Dankbarkeit beweisen. „Ich lerne hier das Leben kennen.“

Nach dem Besuch in der Casa Xochiquetzal heißt es Abschied nehmen von den „schönen Blumen“. Sozialarbeiterin Mama Ede begleitet den Gast aus Deutschland durch das Gewirr der Straßen. Sicher schlängelt sich die kleine Frau durch die Menschenmenge, die Handtasche stets fest im Griff. Mama Ede hat noch eine wichtige Besorgung zu erledigen: Medikamente aus der Apotheke für ihre Schützlinge.

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