So bunt kann eine Grauzone sein

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Mal sind sie winzig und versteckt, mal springen sie sofort ins Auge: Schriftzüge in allen Farben schmücken die grauen Wände Pekings. In Chinas Hauptstadt ist eine kleine, aber feine Graffiti-Szene entstanden. Und die Regierung? Zeigt sich überraschend tolerant. Ein Besuch.

Es sieht nicht so aus, als müsste es schnell gehen. Die Sprühdosen stehen einige Meter hinter ihnen, dazwischen liegen ihre Taschen. Eine kleine Leiter haben sie aufgestellt, um auch den oberen Teil des Stahlcontainers zu besprühen. Angst vor dem Erwischt werden, abruptes Wegrennen, das scheint die drei Graffitisprayer gerade nicht zu beschäftigen.

Sie gehen ein paar Schritte zurück, begutachten ihre Motive, fügen hier und da noch eine schwarze Linie, einen blauen Punkt hinzu. Autos fahren vorbei. Passanten bleiben stehen, machen Fotos oder gehen achtlos weiter. Es ist halb drei nachmittags. Willkommen im 798, dem Künstlerviertel Pekings.

Etwa 15 Kilometer weiter südlich, am berühmten Tian’anmen Platz, überwachen Sicherheitskräfte die Eingänge, lenken Passanten durch Absperrungen, durchleuchten ihre Taschen. Sprühdosen müssen draußen bleiben. Vor 26 Jahren wurde hier eine Demokratiebewegung brutal niedergeschlagen.

Der Platz und die hohe Sicherheitsstufe erinnern daran, dass China ein autoritäres Land ist. Ein Land, in dem nicht nur Künstler verfolgt und Medien zensiert werden. Graffiti lässt sich nicht googeln. Die Suchmaschine ist wie viele andere Internetseiten gesperrt. Aber drei Menschen besprühen ungestört am helllichten Tag eine Wand?

Es bleibt nicht bei einem Container. Bunte Schriftzüge finden sich auf Mauern, Stromkästen, Rollläden, Hauswänden und Brücken in der Stadt verteilt. In den vergangenen sieben Jahren hat sich in Peking eine kleine, aber lebendige Graffiti- Szene entwickelt. Während Sprayer in vielen westlichen Ländern nachts auf die Straßen ziehen, unter Zeitdruck sprühen und mit hohen Strafen rechnen müssen, genießen sie hier mehr Freiheiten. Zwar ist Graffiti in China offiziell illegal. Doch die chinesischen Behörden neigen dazu, wegzuschauen, und Pekings Einwohner beobachten eher neugierig als die Polizei zu rufen.

Graffiti ist weniger eine Verschmutzung

In der chinesischen Gesellschaft werden Sprayer nicht verunglimpft. „Graffiti wird hier als etwas interessantes wahrgenommen, weniger als Verschmutzung“, sagt Norbert Kirbach, ein Kunsthistoriker aus Deutschland, der einige Jahre in Peking gesprüht und sich mit urbaner Kunst befasst hat. Zum einen ist die Szene noch sehr jung und überschaubar. Für die Menschen in Peking ist Graffiti etwas neues und die wenigen Sprayer gelten noch als etwas besonderes.

„Das Publikum ist weniger übersättigt als im Westen“, sagt Kirbach. Gleichzeitig ist Graffiti in China ein teures Hobby, das sich nur die Mittelschicht leisten kann. Es ist nicht mit Klischees wie Armut oder Kriminalität behaftet. Doch die Gründe könnten noch tiefer in der Gesellschaft verankert sein.

Ein Blick in die Geschichte des Landes zeigt: Chinesen malen und schreiben seit tausenden von Jahren auf Wände, Berge und Bäume. In gewisser Weise sei Graffiti Teil ihrer Kultur, sagt Lance Crayon, der mit „Spray Paint Beijing“ eine Dokumentation über die Szene in der Hauptstadt gedreht hat. „Die meisten Leute in Peking finden, dass Graffiti ihre Stadt schöner aussehen lässt. Und das tut es auch.“

Seine Anfänge nahm Graffiti in Südchina. Von Hongkong über Shenzhen und Guangzhou kam die Sprühdose schließlich nach Peking. Heute zählt die 20- Millionen-Einwohner-Stadt laut Schätzungen aus der Szene rund 40 Sprayer, aber nicht alle sind konstant aktiv. Nicht einmal 1000 sind es im ganzen Land. Der Künstler Zhang Dali gilt als Vater des Graffiti in Peking und besprühte Ende der 1990er Jahre alte Gebäude in der Stadt mit seinem unverkennbarem Symbol, dem Umriss eines Kopfes.

Doch Wandmalereien gab es schon vorher. „Mao Zedong flog von der Uni, weil er Slogans in den Schlafsaal seiner Lehrer malte. In gewisser Weise war er ein Graffitikünstler“, sagt Crayon. Richtig Fuß fassen konnte die Szene in Peking erst um 2008 herum, und zwar dort, wo auch der Container steht, zusammen mit vielen anderen buntbemalten Flächen und Kunstwerken.

Künstlerviertel 798

Das Künstlerviertel 798 ist ein ehemaliger Industriekomplex am nordöstlichen Stadtrand Pekings. In den alten Fabrikgebäuden mit hohen Decken und großen Fenstern sind jetzt Cafés und zahlreiche Galerien mit zeitgenössischer Kunst angesiedelt. Junge Leute kaufen in kleinen Läden Schallplatten und Vintage-Mode, Jugendliche im Hipster-Look radeln auf Fixies mit hellgrünen Reifen durch die Straßen.

Wer das Szeneviertel am Südeingang betritt, kann ihn eigentlich nicht verfehlen: Chinas ersten Graffiti-Laden, „400 ml.“ Chinesischer Hip Hop dröhnt aus den Lautsprechern, die Wände sind schwarz bemalt. Ein chinesischer Sprayer, der sich als Scar vorstellt, steht im Laden. Sprühdosen, nach Farben getrennt, stapeln sich in einem dunklen Holzregal, aber auch Kappen, T-Shirts und Skateboards stehen im Angebot.

Eine Dose mit guter Farbe kostet in China 42 Yuan, umgerechnet gut 6 Euro, eine von schlechter Qualität etwas mehr als 2 Euro. „Das ist sehr viel Geld für junge Leute“, sagt ANDC. Der 27-jährige Besitzer des Ladens, der lieber nur unter seinem Tag-Namen auftreten möchte, kann sich Sprühdosen mittlerweile leisten. Er blickt bereits auf eine lange Graffitikarriere zurück.

Als er 2005 an der Uni zum ersten mal einen Sprayer in Aktion sah, war er so begeistert, dass er selber mit dem Sprühen anfing. Zunächst wussten seine Eltern nichts vom neuen Hobby. Sie arbeiten für die chinesische Regierung, nach der Uni halfen sie dem Sohn, einen guten Job bei einer Firma zu bekommen. „Aber die Arbeit hat keinen Spaß gemacht, es war jeden Tag das gleiche. Dann habe ich gekündigt“, sagt ANDC.

Zusammen mit einem Freund startete er 2007 die ABS Crew. Heute sind sie zu fünft und eine der erfolgreichsten Graffiti-Crews in Peking. „Wir wollen eine neue Graffiti- Kultur in China aufbauen“, sagt ANDC und erzählt, wie sie nach Europa reisten, Sprayer aus anderen Ländern trafen und sich austauschten.

2012 eröffneten sie „400 ml“ und sprühen heute nicht mehr nur an die Wand, sondern entwerfen Grafikdesign und arbeiten im Auftrag für Firmen wie Red Bull, Audi und Adidas. ABS Crew holte für China den ersten Platz in internationalen Graffiti-Wettbewerben und organisiert Street-Art Events und Ausstellungen in Peking. „Mir geht es gut, ich bin sehr zufrieden“, sagt ANDC und man sieht es ihm an.

„Wir sind keine Gangster“

Eine chinesische Graffiti-Erfolgsgeschichte. Und ein Beispiel dafür, wie weit entwickelt die Szene nach so kurzer Zeit schon ist. „So etwas dauerte früher in den 90ern viel länger, da wir vieles noch selbst entdecken mussten, was heute per Internet leicht zu finden ist“, sagt Kirbach. Heute sei der weltweite Austausch etwa über spezielle Dosen oder Materialien einfacher und das habe auch die chinesischen Sprayer beeinflusst. „Technisch sind sie sehr ausgereift und malen auf hohem Niveau. Besonders interessant sind jene, die traditionelle chinesische Motive im Graffiti einbinden.“

Neben ABS sprühen noch eine Handvoll weitere Crews in Peking. „Beef“ gebe es keinen, sagt ANDC, und meint damit die Feindschaft zwischen Gruppen. Er spricht gutes Englisch, doch überlegt bisweilen kurz und muss einige chinesische Begriffe auf seinem Laptop übersetzen. Wörter wie „Beef“ aber kommen ohne zu zögern. Graffiti-Jargon, weite schwarze Hose, Sneakers, rote Baseball-Kappe: Auf den ersten Blick könnte er als Rapper durchgehen. Auch auf den Graffiti-Events in Peking legen DJs Hip Hop auf, es wird Breakdance getanzt.

Doch ANDC betont immer wieder: „Wir sind keine Gangster.“ In China sind Sprayer vielmehr oft Kunststudenten, die aus Interesse an der Kunst und nicht unbedingt aus Liebe zur Rap-Musik mit dem Malen beginnen. Unter die chinesischen Sprayer in Peking mischen sich Sprayer aus aller Welt. Sie schätzen das interessierte chinesische Publikum, die vielen Flächen zum Sprühen und die Freiheiten.

In der Dokumentation „Spray Paint Beijing“ erzählt ein schwedischer Sprayer, wie er sich mit Chinesen zum Sprühen getroffen hat: Die Dosen in der Hand, seine Kamera um den Hals, immer bereit, loszurennen. Die chinesischen Sprayer verteilen ihre Dosen überall, sie lassen sich Zeit. Am Ende musste er eine halbe Stunde warten, bis sie fertig gesprüht hatten.

Doch die Freiheiten sind nicht grenzenlos, Sprayer können in Schwierigkeiten kommen. Wann wird ein Auge zugedrückt, wann gibt es Ärger? Eine klare Grenze existiert nicht. „Graffiti ist in China relativ geduldet, solange die Autoritäten nicht direkt herausgefordert werden“, sagt Kirbach. In Peking heißt das: Keine Farbe auf heilige oder historische Stätten wie Tempeln. Auch bei Regierungs- und Unternehmensgebäuden hört die Toleranz der Behörden auf. Im 798 können Sprayer Farbe bekommen, da es ein ausgewiesenes Künstlerviertel ist.

Strafen sind willkürlich, aber meistens mild

Für die vielen anderen grauen Fassaden und Betonmauern Pekings gibt es ebenfalls keine klaren Regeln, noch ist die Szene dafür zu klein. „Es gibt in dem Sinne kein Gesetz gegen das Malen“, sagt Kirbach. Wird ein Sprayer erwischt, entscheide der jeweils verantwortliche Polizist, wie er mit ihm umgeht, oder man einige sich gleich mit dem Besitzer der besprühten Fläche.

Das klingt nach Willkür, und so sieht es in der Praxis oft auch aus. Sollten Strafen anfallen, sind sie meistens mild. Oft sind es kleinere Geldstrafen von umgerechnet 40 Euro. ANDC erzählt von Polizisten, die Sprayern noch erlauben zu Ende zu sprühen und ein Foto zu machen, bevor die Wand übermalt wird. John ist ein Sprayer aus Europa, der seit zwei Jahren in Peking sprüht und seinen richtigen Namen nicht verraten möchte.

Er sprüht tagsüber und nachts, auch in den Hutongs, den engen, traditionellen Gassen Pekings. Wird er von der Polizei erwischt, bleibt er stehen und versucht zu verhandeln, anstatt wegzurennen. „Man wird vernünftig behandelt, nicht wie ein Krimineller“, sagt er. Doch härtere Strafen kommen vor, wenn auch selten. ANDC und ein paar Freunde verbrachten einige Tage hinter Gittern, nachdem sie auf die Wand eines Fabrikgebäudes gesprüht hatten. Befreundete Sprayer von John mussten China verlassen und in ihre Heimatländer zurückfliegen. „Wirst du beim Besprühen eines Zuges erwischt, dann war’s das“, sagt John.

Ein paar Kilometer vom Künstlerviertel 798 entfernt liegt die Jing Mi Lu, eine stark befahrene Straße Richtung Flughafen. Zu Stoßzeiten staut sich der chaotische Verkehr, es ist laut und Fahrräder und Roller warten in Scharen vor der roten Ampel. Auf der Seite, noch hinter dem Bürgersteig und leicht versteckt hinter Bäumen, steht Pekings „Graffiti Wall of Fame.“ Nur beim zweiten Hinsehen ist sie von der Straße aus zu erkennen. Zahlreiche bunte Schriftzüge, aufwendige Bilder und Tags schmücken die kilometerlange Mauer.

Auffällig: Ein Schwein, das mit einem großen Küchenmesser geschlachtet wird. Die Klinge ist blutig und der Körper bereits in einige Scheiben zerlegt. Das Schwein raucht Zigarre und guckt wütend. Neben seinem Kopf liegen Geldbündel und Münzen. Das Werk der ABS Crew ist eine Anspielung auf den Ärger über die steigenden Preise für Schweinefleisch, einer wichtigen Zutat in Chinas Küche. Doch das ist eher die Ausnahme, politische Themen werden meist gemieden.

Zwar seien viele Sprayer in Peking politisch bewusst und machen in ihren Motiven auch mal Anspielungen, jedoch stark stilisiert, so Kirbach. Vielmehr geht es ihnen um das reine Malen. „Sie verstehen sich als Teil der weltweiten Graffitiszene, nicht als politische Aktivisten“, sagt Kirbach. „Im Graffiti ist der Akt des Malens selbst politisch, die Aneignung des urbanen Raumes ist immer und überall ein Statement.“

Hinter den Bäumen, geschützt vor dem Verkehr, verläuft ein schmaler Weg gleich neben der Mauer entlang. Vereinzelt kommen Spaziergänger vorbei und schauen sich die Werke an. Ob sie in einigen Jahren immer noch auf eine bunte Mauer schauen werden? „Sollte die Graffiti-Szene in Peking explodieren, werden die Behörden eingreifen“, sagt Crayon.

Doch danach sieht es momentan nicht aus, auch wenn Graffiti in anderen chinesischen Städten wächst, insbesondere im Süden des Landes, wo das Wetter besser ist. Zwar rücken neue Sprayer nach, einige verlassen aber auch die Stadt oder hören irgendwann mit den Sprühen auf.

Für ANDC unvorstellbar. Das Street-Art-Event im Künstlerviertel 798 hat gerade begonnen. Er sprüht, blaue dicke Buchstaben auf gelben Hintergrund. Es riecht nach Farbe. Aufhören komme nicht in Frage, sagt er. „Graffiti ist mein Leben.“

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