Leben in Russland

Zwischen Heimatliebe und Kriegsangst

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Russland befindet sich im Umbruch: Ukraine-Krise, Ölpreis-Verfall und westliche Sanktionen setzen dem Land zu. „Es ist ein Albtraum“, beschreibt die 21-jährige Moskauerin Alexandra Kostina die Lage in Russland.

Ich habe Angst vor einem Krieg in Russland“, sagt Alexandra Kostina. Seit mehr als zehn Monaten schwelt der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland auch militärisch. Noch immer besetzen russische Separatisten ostukrainische Gebiete. Die im Minsker Abkommen vereinbarte Waffenruhe ist für viele Experten bereits gescheitert.

Westliche Politiker machen vor allem die kompromisslose Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putins für die Situation verantwortlich. „Ich vertraue Putin, dass er mit der Einnahme der Krim einen Plan verfolgt“, sagt Kostina. Und weiter: „Das Vorgehen ist nicht mehr rückgängig zu machen – die Krim wird nicht mehr unabhängig sein können.“

Alexandra Kostina war sechs Jahre alt, als Putin 1999 zum ersten Mal Ministerpräsident wurde. Mit seinem Amtsantritt verbinden viele Russen nach den mageren Zeiten während der Sowjetunion und Perestroika einen wirtschaftlichen Aufschwung im Land. Im August 2014 lag die Zahl der Arbeitslosen in Russland laut dem russischen Statistik-Dienst Rosstat bei 4,8 Prozent.

Noch ist Putin beliebt

Im gleichen Monat verzeichnete Deutschland eine Quote von 6,7 Prozent. Die soziale Komponente der annähernden Vollbeschäftigung wird von Russen oft betont. Einen Grund für die geringen Arbeitslosenzahlen sieht die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer in Arbeiten, die in Deutschland längst von Maschinen erledigt werden oder rationalisiert wurden. Dazu zählen zum Beispiel Aufseherarbeiten in der U-Bahn: In einem Kasten sitzt jemand und beobachtet die Rolltreppe. In Deutschland gibt es schlichtweg einen Notfallknopf. Es sind zahlreiche hausgemachte Probleme, die Russland neben westlichen Sanktionen und Ölpreisverfall zu bewältigen hat. Selbst Regierungschef Dmitri Medwedew betonte Ende Januar, eines der Grundübel liege in den seit Jahren schneller als die Produktivität gestiegenen Gehältern.

Noch ist Putin so beliebt wie vor der Krise. Wie eine Befragung des unabhängigen Moskauer Lewada-Zentrums ergab, will jeder Zweite in Russland Putin auch nach 2018 weiter im Amt sehen. An der Wand neben dem Arbeitsplatz von Alexandra Kostina hängt ein Schwarz-Weiß-Porträt des russischen Präsidenten. Sie hat es am 18. Dezember 2014 aufgehängt. Der Rubel ist an diesem Tag um mehr als elf Prozent innerhalb von weniger als 24 Stunden gefallen.

Abseits der wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg haben junge Menschen kaum Chancen auf eine gut bezahlten Arbeitsplatz.
Russland ist laut seiner Verfassung von 1993 ein säkulares Land. Trotzdem wurde 2000 die Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten in einem Gottesdienst gefeiert. (Basilius-Kathedrale in Moskau)
Moskau City, das internationale Geschäftzentrum am Ufer der Moskwa: Angeblich sollen etwa ein Drittel der Bürofläche leer stehen. (©Marie Zahout)
Im Hintergrund von Alexandra Kostina hängt Putin an der Pinnwand - Satire, wie sie selber sagt.
Spätestens seit dem Währungssturz setzen die Leute jeden verdienten Rubel sofort um. Hat eine Packung Milch im Dezember noch etwa 30 Rubel gekostet, müssen Kunden mittlerweile mehr als 40 Rubel für das gleiche Produkt bezahlen. (©Marie Zahout)
Die Machtzentrale in Russland: der Kreml
Die durchschnittliche Lebenserwartung für einen russischen Mann liegt ohnehin bei nur 64 Jahren und ist damit mehr als zehn Jahre geringer als die deutscher Männer.

Während Anleger am Morgen noch 72 Rubel für einen Euro bekamen, waren es am Abend des gleichen Tages schon mehr als 80 Rubel. Der niedrige Ölpreis und westliche Sanktionen als Reaktion auf die Ukraine-Krise führen seit Monaten zu einem Absturz der Währung. „Das ist Satire“, erklärt Kostina das Präsidenten-Porträt neben sich. Putin würde es sicher dennoch freuen.

„Was für ein Barbie-Girl“

Der Präsident liebt die Selbstinszenierung: Er zeigt sich halbt nackt beim Angeln und beim Reiten. Als Taucher, Jäger und beim Skifahren beweist er seine sportliche Abenteuerlust. Erst Wochen später hat Kostina ein Bild ihres Mannes daneben gehängt. Er ist ein großer Anhänger Putins.

Alexandra Kostina ist 1,79 Meter groß und trägt Kleidergröße null. Die blondierten Haare reichen ihr fast bis zur Hüfte. Ihre Fingernägel sind manikürt und die Lippen mit rotem Lippenstift betont. „Was für ein Barbie-Girl“, witzelt ein Kollege über sie. Die 21-Jährige arbeitet als Marketing Managerin bei einer Consulting-Firma in Moskau.

Nebenbei studiert sie „Banken, Finanzen und Investitionen“ im Master. Kostina spricht fünf Sprachen. Ihr Deutsch ist nahezu akzentfrei. Damit ist sie eine Ausnahme unter ihren Landsleuten. In den meisten russischen Schulen werden Fremdsprachen kaum gelehrt. Sascha, wie die Kollegen sie unter ihrem russischen Spitznamen nennen, mag Luxus.

„Ich trinke keine Coca Cola“

Ihre Handtaschen sind von Edel-Marken wie Prada oder Louis Vuitton. Understatement ist ein Fremdwort in Russland. Täglich telefoniert Alexandra Kostina mit ihren Eltern, die in Moskau leben, oder schreibt mit ihnen über Whatsapp. Ihr Großvater kommentiert regelmäßig Fotos seiner Enkelin auf Facebook. Auf einem der Bilder auf ihrem Facebook-Profil posiert sie in einem Tank-Top mit dem Druck einer amerikanischen Flagge auf der Brust.

„Ich trinke keine Coca Cola“, sagt hingegen Aleksey Surugov, ein Freund Kostinas. „Das kommt aus den USA.“ Sein Lieblingssänger ist der amerikanische Künstler Justin Timberlake. Russland ist ein Land voller Widersprüche. Der russische Dichter Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew hat einmal gesagt: „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“

Spätestens seit dem Währungssturz setzen die Leute jeden verdienten Rubel sofort um. Auch das Weihnachtsfest fiel für die meisten Russen noch üppiger aus als sonst. „Ich überlege mir eine Rolex zu kaufen. Meine Mutter hat mir geraten, alles Geld sofort auszugeben“, sagt Kostina. „Ich habe etwas Geld übrig und kaufe nun einen BMW“, erzählt eine Arbeitskollegin von ihr.

Der Preis für ein iPhone um 20 Prozent gestiegen

Nur zu gut erinnern sich ihre Kollegen noch an die Russlandkrise Ende der 1990er Jahre. „Bei der aktuellen Situation weiß ich nicht, wie lange das Geld auf der Bank noch etwas wert ist.“ Trotz ihrer Ersparnisse muss sie die Summe durch einen Kredit aufstocken. Tatsächlich sind die Preise vieler Güter rasant gestiegen. Nicht einmal vier Wochen nach dem russischen Weihnachtsfest am 7. Januar hat der Preis eines iPhones um 20 Prozent zugenommen, von 40.000 auf 50.000 Rubel.

„Lebensmittel und Kleidung sind von einem Tag auf den anderen teurer geworden“, sagt Kostina. Hat eine Packung Milch im Dezember noch etwa 30 Rubel gekostet, müssen Kunden mittlerweile mehr als 40 Rubel für das gleiche Produkt bezahlen. „Ich kaufe weniger Fleisch und Fisch“, sagt Alexandra Kostina. „Wenn ein selbstgekochtes Abendessen für zwei Personen schon 800 Rubel kostet, könnten wir davon im Restaurant essen gehen.“

Die Regale der Supermärkte sind trotz des Lebensmittelembargos gegen den Westen gut gefüllt, auch wenn die Auswahl geringer geworden ist. „Ehrlich gesagt verstehe ich diese Lebensmittelsanktionen nicht“, so Kostina. „Selbst Sojamilch aus Österreich kann ich kaufen.“

Hamsterkäufe heizen Preise zusätzlich an

Viele Waren kommen über Weißrussland oder Kasachstan in die russische Föderation. Babynahrung und laktosefreie Produkte dürfen sowieso importiert werden. Denn nicht alle Produkte können aus alternativen Quellen bezogen werden. Umso verwunderlicher, dass gerade ein russisches Grundnahrungsmittel knapp zu werden droht.

Buchweizen wird in Russland traditionell als Brei zum Frühstück oder als Beilage zum Mittagessen serviert. In den Regalen der Geschäfte ist derzeit vielerorts kaum noch Gretschka zu finden, wie Buchweizen in Russland genannt wird. Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde Rosstat ist der Preis für Buchweizen seit November um mehr als 48 Prozent gestiegen. Vermutlich halten Händler den Buchweizen aus Hoffnung auf weitere Preissteigerungen zurück. Hamsterkäufe der Verbraucher tragen ihr Übriges dazu bei.

Kostinas Familie investiert derzeit vor allem in Antiquitäten. Ihr Vater hat Werkzeug wie Hacken, die aus dem Mittelalter stammen, gekauft. Später möchte er die Geräte gewinnbringend an Sammler verkaufen. Auch Kunstdrucke des russischen Malers Ivan Shishkin aus dem 18. Jahrhundert sammelt er. „Wir hätten unser Erspartes früher in Dollar tauschen sollen“, sagt Kostina.

Alkoholkonsum ist ein großes Problem

Aktien hingegen hält sie momentan für eine unsichere Geldanlage: „Die Wertpapiere von Yandex beispielsweise sind derzeit im Keller.“ Das russische Unternehmen ist vor allem bekannt durch seine gleichnamige Internet-Suchmaschine, die in Russland als Pendant zu Google gilt.

Kostina lebt zusammen mit ihrem Mann zur Miete in einer Zweizimmerwohnung in Moskau. Im Herbst letzten Jahres haben die beiden geheiratet. Da kannten sie sich gerade einmal drei Monate. Die Lebensplanung der wenigsten Russen ist langfristig angelegt. So schließt kaum ein Russe eine Lebensversicherung ab.

Die durchschnittliche Lebenserwartung für einen russischen Mann liegt ohnehin bei nur 64 Jahren und ist damit mehr als zehn Jahre geringer als die deutscher Männer. Hauptursache, wie aus einer Studie der russischen Akademie der medizinischen Wissenschaften hervorgeht, ist dafür ein hoher Alkoholkonsum. Wodka ist bei Russen ungebrochen beliebt.

Laut Kritikern will Putin das Volk mit billigem Alkohol ruhigstellen

Während es dem letzten Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow gelang, die Sterblichkeit infolge von Alkoholmissbrauch durch eine hohe Besteuerung hochprozentiger Getränke zu senken, entgingen dem Staat dadurch wichtige Einnahmen.

Wladimir Putin sprach sich gegen eine Preiserhöhung bei Alkohol aus. Am 1. Februar wurde der offizielle Mindestpreis sogar herabgesetzt. Ein halber Liter Wodka ist nun bereits für 185 Rubel (ca. 2,50 Euro) zu haben. Putin begründet das damit, den Konsum illegal gebrannten Alkohols verhindern zu wollen. Kritiker sehen darin aber die Absicht, das Volk mit billigem Alkohol ruhigzustellen und jeden etwaigen Widerstand zu verhindern.

Die Firma bei der Alexandra Kostina angestellt ist, wurde von einem Deutschen gegründet. Heute sagen die Mitarbeiter: „Wir sind enttäuscht von den Deutschen. Sobald die Krise in Russland begann, hat sich der Großteil unserer Geschäftspartner aus Deutschland zurückgezogen.“

Nach einem Rückgang von Investitionen europäischer Firmen in Russland weitet das Consulting-Unternehmen seinen Markt auf Asien aus. Vor allem asiatische Praktikanten sollen den Einstieg durch ihr kulturelles Wissen über den Alltag und ihre Sprachkenntnisse erleichtern.

Berechtigte Kritik oder Angriff aufs Vaterland?

Kostina selbst ist ebenfalls auf Jobsuche. Wichtig ist ihr ein Gehalt in Dollar. Sie schreibt Bewerbungen für Stellen in den USA, Asien und Europa. Abseits der wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg haben junge Menschen kaum Chancen auf eine gut bezahlte Stelle.

Der Film „Leviathan“ des russischen Regisseurs Andrej Swjaginzews stellt dies eindringlich dar. Er zeichnet ein düsteres Bild vom Russland fernab der Großstadt: Es wird viel getrunken, geflucht und die Menschen sind der Behördenwillkür ausgesetzt.

Einen Golden Globe hat der Streifen schon gewonnen. Für den Oscar war er nominiert. In Russland selbst hat „Leviathan“ eine Diskussion ausgelöst. Während die einen ihn als realitätsgetreues Porträt loben, kritisieren die anderen ihn als Angriff aufs Vaterland.

Für Alexandra Kostina zeigt der Film ein wahrheitsgetreues Bild, das nur keiner sehen möchte. Sie liebt ihr Heimatland. „Ich bekomme sehr schnell Heimweh, vermisse Moskau und meine Familie“, sagte sie noch vor einigen Monaten. Heute klingt das anders: „Es ist ein Albtraum.“

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