Kiruna auf Rädern

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Was passiert, wenn eine Stadt plötzlich auf Rädern landet? Und was, wenn sie dazu in der Arktis liegt? Unterwegs in einer „company town“ zwischen dem Fjell und der Mine.

Es ist, als beobachte man ein groteskes Puppenstubenspiel der Jötunnen, der altnordischen Riesen. Fast geräuschlos verlässt das rund 100 Tonnen schwere Gebäude seinen Ort. Es wird auf einen Stahlbalken hochgehoben und auf einen Tieflader aufgesetzt. Das erste von mehreren denkmalgeschützten „Gelbe Reihe Häusern“ macht sich auf die Reise.

Mit einer Geschwindigkeit von fünf Kilometer pro Stunde rollt es durch die Gegend. Es zieht an erstaunten Zuschauern und an einigen verkrüppelten alten Birken vorbei. Seine wachsame Garde, uniformierte Transportarbeiter in neongrünen Schutzanzügen, geht dicht daneben und passt auf, dass das Gebäude nicht verrutscht. Es fängt an zu schneien. Dicke, unförmige Schneeflocken stöbern durch die Luft. Und das 119 Jahre alte Haus aus Kiruna rollt in sein neues Leben.

Getrieben vom Nomadengeist

Kiruna ist Schwedens nördlichste Stadt. Sie liegt gut 140 Kilometer oberhalb des Polarkreises: Ein Haufen zusammengewürfelter Häuser, altmodische Oldtimer auf den Straßen und das Ende-der-Welt-Gefühl in der Luft. Im Sommer geht die Sonne für etwa 50 Tage nicht unter, im Winter für fast drei Wochen nicht auf. Karge Landschaften rufen Zeiten in Erinnerung, als das Volk der Samen mit seinen Rentieren hier noch frei umher wanderten.

Wie von diesem Nomadengeist getrieben, gerät Kiruna jetzt selbst in Bewegung. Nach Nya Kiruna (Neu-Kiruna), rund vier Kilometer östlich, soll es gehen. Im Oktober waren drei „Gelbe Reihe Häuser“ mit den Nummern B555, B556 und B557 umgezogen. Bald folgen auch die anderen Gebäude.

Grund für den Umzug ist die größte unterirdische Eisenerzmine der Welt. Sie liegt unter dem westlichen Stadtrand und frisst sich immer weiter nach Osten. Deshalb müssen etwa 6.000 Einwohner ihre Heimat verlassen, einige haben es bereits gemacht.

Im Angesicht der Stille

Åke Jönsson, der 55-jährige Umweltinspektor aus Kiruna, hat sein altes Haus bereits geräumt.
„Es war Samstagmorgen. Ich trank meinen Frühstückskaffee. Draußen war es komplett still. Kein Kindergeschrei, gar nichts“, Jönsson wirft einen langen Blick auf die Stelle, wo sein Haus früher stand. Ein mit grauen Steinen gefüllter Drahtkorb ist das einzige, was an dieser Stelle noch zu sehen ist. „Erst dann wurde mir schließlich klar, dass wir wirklich weg müssen“, sagt er. Das war Weihnachten 2014.

Ake Jönsson ist bereits umgezogen.

Der Drahtkorb, Gabione genannt, soll eigentlich ein Werk des Gedenkens sein. Doch mit ihrem dürren Käfig aus verzinktem Stahl sieht sie eher wie alte Haut aus, die das Haus nach dem Entpuppen abgelegt hat.

In Jönssons altem Viertel Ullspiran, nur ein paar Hundert Meter vom Zentrum entfernt, gab es mehrere dreistöckige Reihenhäuser mit insgesamt rund 200 Wohnungen. Sie waren in den 1960er Jahren von der staatlichen Bergbaugesellschaft Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag (LKAB) für Familien mit Kindern gebaut worden. Jönsson hat mit seiner Partnerin und seinen zwei Söhnen, Dennis und Robin, fast 25 Jahre dort gewohnt. Er erinnert sich noch gut daran, wie nach Robins Geburt ein Baum im Innenhof gepflanzt wurde. „Als Glückszeichen“, sagt er.

Ullspiran war eines der ersten Viertel in Kiruna, das komplett verschwand. Als Jönsson und seine Familie den Bezirk verliessen, war fast niemand von ihren Nachbarn mehr da. Stattdessen war der Bezirk komplett geräumt worden und dient für die Übergangszeit als Parkzone.

Für die Hausbesitzer, die in Kiruna vom Umzug betroffen sind, bieten sich drei Optionen an. Nummer Eins: Die Bergbaugesellschaft LKAB zahlt für die Häuser, die abgerissen werden. Ihre Bewohner bekommen den Marktpreis und zusätzlich 25 Prozent. Doch obwohl die Auszahlungen höher sind, als der marktübliche Verkaufspreis, reichen sie nicht, um einen gleichwertigen Neubau in der Stadt zu kaufen. Deswegen droht die Gefahr, dass viele Betroffene den Ort verlassen werden, um woanders ein Haus zu kaufen.

Die zweite Alternative ist die so genannte „Schlüssel gegen Schlüssel“ Lösung. Als Immobilienbesitzer kann man in Neu-Kiruna ein Ersatzhaus erhalten. Das Problem ist, dass die meisten davon aber noch nicht fertig sind.

Nur die dritte Möglichkeit verlegt ganze Häuser auf Räder. Sie betrifft aber hauptsächlich nur kulturell bedeutende Bauten: Insgesamt rund vier Dutzend werden auf diese Art nach Neu-Kiruna verlegt.

Jönssons Situation fiel allerdings in keine der oben genannten Kategorien. Seine Wohnung gehörte der Minengesellschaft: Genau wie Hunderte von anderen Einwohnern in Ullspiran, hatte er seine Unterkunft gemietet. Ihm hatte LKAB schließlich ein anderes Mietshaus angeboten. Der Ersatz liegt nur wenige Straßen von dem ursprünglichen Ort entfernt. Doch das Problem wurde nur aufgeschoben: 2023 soll auch hier alles abgerissen werden. Wie es dann für ihn weitergeht, weiß Jönsson noch nicht.

Monstrum und Mutter

Der 55-Jährige will jetzt noch nicht daran denken. Die Mine wird es schon richten, da ist er sich sicher. Die meisten Bewohner Kirunas haben ihr Leben schon immer nach ihr ausgerichtet. Einerseits ist die Mine ein riesiges Monstrum, dass die Heimat auffrisst. Andererseits ist sie seit über hundert Jahren der größte Arbeitgeber der Region und sorgt fast wie eine Mutter für die Bewohner.

Die Grube Kiruna existiert seit 1890. Eine gefühlte Ewigkeit. Sie gilt als das größte unterirdische Eisenerz-Bergwerk der Welt. Und Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag ist das älteste staatliche Bergbauunternehmen Schwedens. 365 Tage im Jahr wird in LKAB-Minen Eisenerz gefördert, die jährliche Menge an daraus gewonnenem Stahl entspricht ungefähr sechs Eiffeltürmen.

Es ist gerade Weihnachtszeit und Glühbirnenketten lassen die Grube fast schon festlich erscheinen, rund zwei Kilometer vom alten Stadtzentrum entfernt. Über dem schornsteinähnlichen Lüftungsschacht stehen Wolken, die an Rauchschwaden erinnern. Auf mehrere Stockwerke verteilen sich „Die Decks“, wie ein großes Schiff liegt die Mine zu Anker.

Jede Nacht, pünktlich um 01.20 Uhr, sprengen die Arbeiter untertage. Zurzeit fördert LKAB Eisenerz auf einem Niveau von 1.365 Metern unter dem früheren Gipfel, den die Samen „Berg des Schneehuhns“ nennen. Man hört das Grollen, spürt die Vibration. Es wird ausgerechnet mitten in der Nacht gesprengt, weil es zu diesem Zeitpunkt nur wenige Bergarbeiter untertage gibt. Falls die Sprengung schiefgeht, so das Kalkül, wird es weniger Opfer und Verletzte geben. Die nächtlichen Detonationen sind in Kiruna Teil des Alltags geworden. Es ist, als hätte man Jörmungandr, die Midgardschlange aus der Wikinger-Legende, gezähmt.

„Wir leben hier in einer Bergbaustadt. In einer company town,“ sagt Fredrik Björkenwall. Er arbeitet in der Kommunikationsabteilung von LKAB. Björkenwalls Großvater war sein Leben lang Bohrer. Ganz unten, im Bauch der Mine.

Rund 540 Meter unter dem Gipfel des Berges ist die Luft feucht und lauwarm. Björkenwall führt in einen großen unterirdischen Raum, den man nach einer 15-minütigen Autofahrt durch den Tunnel erreicht. Seltsame Schatten tanzen an den Wänden. Wie schimmernde Blauwale tauchen gigantische stillgelegte Bohrmaschinen aus der Dunkelheit auf. Die Techniker halten die Temperatur das ganze Jahr über konstant: angenehme 18 Grad Plus. Der Grund: So unzerstörbar die schweren Geräte auch aussehen mögen, arktische Kälte zwingt sie in die Knie.

Hier im Herzen der Mine offenbart sich eine unterirdische Parallelwelt. Es gibt eine Kantine, einen Werkzeugladen, sogar einen Konferenzraum. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat sich hier wohl ein Mittagessen gegönnt, als er 2013 an der Tagung des Arktischen Rats in Kiruna teilnahm.
In dieser Parallelwelt dreht sich fast alles ums Geld. Auch wenn das Geld sich in Form von Eisenerz (apatithaltigen Magnetit) manifestiert und schwarz ist. 2018 erzielte LKAB einen Gewinn von rund 628 Millionen Euro vor Abzug von Steuern. Dafür grub das Unternehmen 26,8 Millionen Tonnen Eisenerz aus der Erde.

LKAB-Sprecher Björkenwall sagt, es sei wirtschaftlich leider notwendig, auch jenes Erz zu fördern, das unter Kiruna liegt. Selbst wenn die Stadt dafür verlegt werden muss. Dafür wolle das Unternehmen bis zum Jahr 2035 fast zweieinhalb Milliarden Euro in die Gemeinde-Umwandlung investieren.

Das Gefühl des Fjells

Derweil breitet sich mehrere hundert Meter oberhalb des Förderschachts unter dem weiten Himmel Lapplands ein ganz anderes Universum aus. Hier herrscht die Landschaft namens Fjell. In den spätsommerlichen Tagen leuchtet sie in allen Schattierungen von smaragdgrün bis lila. Von Ende August bis Ende März tanzen die Polarlichter im Nachthimmel, spektakulär und bunt, als hätten sie ihrer Umgebung alle Farben geraubt. In großen Herden suchen Rentiere nach Futter.

Mathias Keinil ist Same.

Besuch bei einem echten Samen Kirunas, etwas mollig mit rötlichen Wangen, sitzt er in seiner Wohnung. „Wir sind schon immer mit der Rentierzucht beschäftigt gewesen – soweit wir zurückdenken können“, sagt Mathias Keinil. Der 41-jährige ist in einem kleinen Dorf rund zwanzig Kilometer nördlich aufgewachsen. Seit er elf Jahre alt ist, kennzeichnet er seine Rentiere mit der eigenen Ohrmarke, die ihm sein Großvater gegeben hat. Jeder Rentierbesitzer muss eine haben. Sie wird mit einem Messer in das Ohr des Kalbes geschnitten und kennzeichnet, wem es gehört.

In ganz Schweden leben rund 4.500 Rentierbesitzer. In der Gegend rund um Kiruna gab es 2009 mehr als 141.000 Rene. „Wir haben keinen Einfluss auf sie“, sagt Keinil. „Es sind die Rentiere, die entscheiden, wo sie hinwollen. Wir helfen nur.“ Jeden Sommer ziehen sie nach Westen und jeden Winter – unvermeidlich, wie der Herzschlag der Natur – nach Osten. Wenn eine Kuh mit einem Kalb trächtig ist, geht sie immer zu dem Ort zurück, an dem sie selbst geboren wurde.

Wenn Keinil über die Wanderrouten der Rene erzählt, leuchtet sein rundes Gesicht mit demselben milden Licht auf, das an einem Julitag über die skandinavischen Bergtundra strahlt wird. Für ihn ist das Leben einfach. Ende August wird geschlachtet. Im Mai werden die neuen Kälber geboren. Das ist der Kreislauf des Lebens.
Doch dieser Kreislauf ist bedroht. Laut dem Rentierhalter gibt es drei Faktoren, die sich in den uralten Zyklus einmischen und bei ihm zum plötzlichen Herzrasen führen können: Abholzung, Windparks und der Bergbaubetrieb.

Demokratie in Aktion?

Doch zu heftigen Protesten wegen des Bergbaus ist es in Kiruna bislang nicht gekommen. Weder von den Samen, noch von den anderen Einwohnern. Die Loyalität zu der Mine ist einfach zu groß. Heutzutage arbeiten in der Grube rund 500 Kumpel, insgesamt sind 4.200 Menschen bei dem staatlichen Bergbauunternehmen tätig. Etwa zehn Prozent von Kirunas 18.000 Bewohner sind direkt bei LKAB angestellt. Und noch viel mehr arbeiten bei den zahlreichen Subunternehmen und Dienstleistern des Bergwerks.
Nicht zuletzt dank der Mine ist das mittlere Einkommen in Kiruna sogar höher als in Stockholm. Selbst Ungelernte können bei LKAB einen Bruttolohn von fast 4.500 Euro im Monat verdienen. Es scheint, dass man sich hier an diese Sicherheit gewöhnt hat.

Im Laufe der Zeit ist der Umzug zum Status quo geworden. „Ursprünglich gab es sieben verschiedene Stellen, die als mögliche Destinationen genannt wurden“, sagt Dan Lundström. Seit Januar 2017 leitet er die Firma Kiruna Storytelling, die sich mit der urbanen Transformation beschäftigt. Früher war er auch Vorsitzender der lokalen Mietervereinigung. Laut Lundström gab es am Ende nur zwei Alternativen: Die Stadt nach Nordwesten zu verschieben oder rund vier Kilometer nach Osten.

Gunnar Selberg, Gemeinderat für die grünliberale Zentrumspartei, der zum Zeitpunkt der Debatte auch Teil der Gemeinderegierung war, erinnert sich sehr gut daran: „Eigentlich waren wir dafür, eine Volksabstimmung durchzuführen“. Wichtig wäre das nicht nur wegen der Einwohner gewesen, sondern hätte auch eine Möglichkeit sein können, verschiedene Alternativen zu diskutieren. Aus dieser Idee ist aber nichts geworden. „Wir wurden nicht gehört“, meint der Politiker. Die Ost-Alternative hat schließlich gewonnen, was laut Selberg eine Entscheidung der Regierung war. Man hat die Leute von Kiruna nie gefragt, ob sie damit einverstanden sind.

Und nun wird die Entscheidung eben umgesetzt. Zunächst wurden 19 kulturell bedeutende Gebäude verlegt, auch auf Rädern wie die „Gelbe Reihe Häuser“. Vor kurzem wurde die Liste auf 39 Bauten erweitert. Dazu gehören unter anderem die Rundfunkstation, das Krankenhaus, die alte Feuerwache, das Gebäude der Heilsarmee und der Stolz der Kiruaner, die Kirche. Ein schönes, rotes Holzbauwerk, das an ein Wikinger-Schloss erinnert.

Die Kirche in Kiruna.

„Die Toten müssen ja auch mit“

„Sogar die Toten müssen mit“, sagt Rasmus Norling. Rasmus, 41 Jahre alt, arbeitet als stellvertretender Kommunaldenkmalpfleger bei der lokalen Gemeinde. Er trägt einen hellblonden Pferdeschwanz mit vereinzelten grauen Strähnen und eine Menge philosophischer Gedanken in sich.

Das Grab des ersten Direktors der Mine.

Kurz vor der Kirche bleibt Rasmus abrupt stehen und zeigt einen kleinen, mit Buchen bewachsenen Gedenkhain. Dort thront ein großer grauer Gedenkstein samt Bild und Inschrift. Das Monument wäre einem nordischen Fürsten angemessen, ehrt aber den Gründer der Stadt, der auch der erste Direktor der Mine war: Hjalmar Lundbohm. Ohne ihn hätte die Stadt ihre heutige Identität wahrscheinlich nie entwickelt, schwärmt Rasmus. „Die Mine war sein Lebenswerk“. Dann schweigt er kurz. „Eine Weile war die Frage offen: Lassen wir ihn hier? Soll ihn seine geliebte Grube jetzt verschlucken?“

Laut Gesetz soll die Ruhe der Toten gewahrt, eine Vermischung der Asche unbedingt vermieden werden. Auch wurde Lundbohms Grab noch nie geöffnet. Dies ist nur in besonderen Ausnahmefällen möglich. Rasmus klingt resigniert: „Wie können wir das jemals schaffen?“.

Vielleicht, überlegt er, könnte man den Boden einfrieren und den als einen einzigen Eisklumpen verlegen. Oder den Ort exakt vermessen, alle Steine ausgraben, sie Stück für Stück verlegen und sie an der neuen Stelle exakt zusammensetzen. Schließlich gibt Rasmus auf und will sich weiter mit anderen beraten. „Schließlich, passiert es ja nicht alle Tage, dass man die Toten umbettet“. Sicher scheint ihm nur: Kiruna wird umziehen. ♦


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