Slum mit Stil

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In Kenias Hauptstadt Nairobi wohnt ein Drittel der Bevölkerung in Slums. Eine Million Menschen organisieren ihr Leben zwischen Bretter-Hütten, Rohbauten und Müll. Doch anstatt darüber zu jammern, wollen einige das Beste daraus machen.

Mit ausgestrecktem Arm deutet Nicholas Kimeu über Wellblechdächer und ausgewaschene Straßen. »So viele Menschen sind hier aufgewachsen. Und dann leben sie halt einfach hier. Und die nächste Generation führt wieder das gleiche Leben.« Er sitzt auf einem Plastikkanister zwischen Wäscheleinen und wackeligen Regalen. Seine Augen sind leicht zusammengekniffen vor heller Sonne und Staub in der Luft, wenn er erzählt. »So entsteht ein Kreislauf, der immer wieder neu anfängt. Dadurch ändert sich an der Situation hier im Slum aber rein gar nichts.«

Eine Gasse weiter ist er zusammen mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder aufgewachsen. Zu viert in einem Zimmer, auf knapp zehn Quadratmetern, zwischen Holzpritschen, Matratzen, Kanistern und vielen Töpfen. Die Hütte der Eltern haben die Kinder verlassen, als ihre Mutter 2012 starb. Der Bruder wohnt jetzt gegenüber. Von seiner Tür aus kann Nicholas Kimeu auf das Dach des Hauses blicken. Dahinter erscheinen im staubigen Dunst am Horizont die Hochhausfronten der Westlands. Etwas weiter hinten erheben sich die grünen Hügel Nairobis voller moderner Wohnanlagen und »gated communities«, umzäunte Nachbarschaften für wohlhabendere Bewohner. 

Aus dem Slum aufs Cover

Die Bäume und Wege zum Spazieren dort kennt Nicholas Kimeu nur aus Erzählungen und von Bildern. Er hat die Ellbogen auf den Knien abgestützt, zwischen den Handflächen rollt er eine Zeitschrift hin und her. »Hier in Mathare leben wir wie in einem Tal zwischen zu hohen Bergen. Um uns herum ragen die schillernden Gegenden auf. Und wir sitzen hier mittendrin.« Das Titelbild der Zeitschrift in Nicholas Kimeus Händen zeigt eine junge Kenianerin, stark geschminkt in einem orangen Kleid. Das Mädchen, Njoki Muriithi, ist das aktuelle Cover-Model des »Zoom Magazins«. Wie Nicholas Kimeu stammt sie aus Mathare, einem der zahlreichen Slums in Kenias Hauptstadt Nairobi. Die Magazinredaktion hat Njoki Muriithi als Gewinnerin des Monats durch ein Selfie von ihr ausgewählt. Für das neue Jugendmagazin mit Themen aus Musik, Mode und Subkultur – über das Leben im Slum. 

Nicholas Kimeu hat an der zweiten Ausgabe der Zeitschrift als Fotograf und Autor mitgearbeitet. »Ich habe mich irgendwann gefragt: Warum kommen ständig andere Leute hierher, um dann unsere Geschichten zu erzählen?«, sagt er. »Ich wollte die Gelegenheit nutzen, selbst zu erzählen. Ich wollte den Leuten meine Sicht auf die Kultur Nairobis und in Mathare näherbringen.« Nicholas Kimeu hat lange Zeit über seine Heimat nachgedacht. In Texten, Gedichten, in Filmen und auf Fotos hält er jetzt seine Gedanken, Ideen und Beschreibungen fest. An der Wand neben dem Spiegel hängt das erste Foto, das er gemacht hat: Zwei Kinder blicken hinter einer Ecke hervor in die Kameralinse. Dahinter verliert sich eine Gas se entlang winziger Rinnsale im rötlich lehmigen Bo den vor einem Teppich aus zerdrückten Plastikflaschen. 

Wohl knapp eine Million von Nairobis geschätzten gut drei Millionen Einwohnern leben in einem der zahlreichen Slums der Stadt. Eingebettet zwischen Häuserblocks und Rohbauten aus Beton erstrecken sich auf riesigen Flächen und in Tälern die Hütten, Gassen und Stände derer, die sich anderen Wohnraum nicht leisten können. Unter ausgeblichenen Sonnenschirmen liegen auf Holztischen Plastikspielzeug und Bananenstauden aus. Ziegenrippchen garen im Rauch von Grillrosten. Kinder laufen Slalom um die Holzstangen der aufgespannten Planen und zwischen den geparkten Mofas. Alltägliches Treiben, wenn man in Mathare unterwegs ist. 

Sport und Bibliothek

Vor den Füßen von Nicholas Kimeu rollt ein Ball über die Straße. Er kickt ihn in Richtung Straßenrand, hält kurz inne, wartet, was die Kinder machen. »Das hier ist die Wirklichkeit, die gelebte Wirklichkeit.« Als die Kinder dem Ball hinterhersausen, spricht er weiter. »Wir spüren die Trennung, die große Kluft zwischen Arm und Reich jeden Tag. Und der Grund dafür liegt auch in der Politik und im System.« Nicholas Kimeu ist auf dem Weg in die Bibliothek. Fast täglich geht er in die »MYSA Mathare Library«. Freunde hatten ihm vor Jahren beim Fußballspielen davon erzählt, dass sie sich dort regelmäßig treffen. Die Bibliothek ist eines der Projekte der Mathare Youth Sports Association, kurz MYSA. 1987 wurde MYSA als Hilfsorganisation gegründet und gehört mittlerweile zum Leben im Slum dazu – als Anlaufstelle für Beratung, als Ideengeber und als eine Art Kultur- und Sportzentrum. Über Fußball und andere Sportangebote kommen die Mitarbeiter mit Kindern und Jugendlichen auf der Straße und in Schulen in Kontakt. Sie wollen die Jugend stärken, ihnen Anregungen bieten. Das Ziel ist, soziale Kompetenzen und Selbstvertrauen zu vermitteln. 

Bei den Treffen zeigen die Teilnehmer ihre Fotos, erzählen von ihren Projekten und Themen. Dann unterhalten sich die Mitarbeiter von MYSA mit den Jugendlichen über Drogen, Kriminalität und Bürgerrechte. Für diese Treffen fährt Michael Maina regelmäßig von seinem Büroplatz bei MYSA in Komarock im Osten Nairobis nach Mathare. Sein Weg führt ihn über die Juja Road, die oberhalb des Slums entlangführt. Als ehemaliger Teilnehmer von MYSA-Projekten kennt er die Bibliothek in Mathare noch aus den Anfängen. Inzwischen gibt es vier davon, verteilt über die Stadt. An der Straßenecke steigt Michael Maina aus einem der bunten Matatus, der typischen Kleinbusse in Nairobi. Zwischen lautem Motorknattern und dem Hupen der vorbeifahrenden Matatus muss er laut sprechen. »Die meisten Menschen hier nehmen große Strapazen für einfachste Dinge wie Wasser, Essen und eine halbwegs ordentliche Bleibe auf sich. Aber sie wissen trotzdem zu schätzen, wenn sie auch andere Anregungen bekommen.« 

Mittlerweile ist er Programm-Manager für das Projekt »Shootback«. MYSA verleiht Kameras und andere Technik, damit die Teilnehmer wie Nicholas Kimeu auf eigene Faust ihr Viertel, ihre Freunde und ihre Umgebung fotografieren, filmen und dokumentieren können. Michael Maina ist selbst in einem Slum groß geworden, etwas weiter entfernt vom Stadtzentrum. Mit der Arbeit bei MYSA will er auch gegen das trostlose Bild der Viertel ankämpfen. »Es herrscht hier nicht nur Chaos, wie viele Leute gerne behaupten. Die Straßen sind okay, auch wenn sie eben durch ein Slum führen«, sagt er, hebt seine Stimme noch mal an. »Man kommt überall schnell hin. Und viele Leute hier betreiben ihren eigenen kleinen Handel. Vor allem aber herrscht Leben!« Auf dem Weg durch Mathare bleibt Michael Maina alle paar Meter stehen, begrüßt Jugendliche und Kinder vor ihren Hütten mit Handschlag und Ghettofaust. Ein kurzer Spruch, ein schnelles Lächeln. Hammerschläge und Radiomusik begleiten die Gespräche über Alltag und Fußball. Ein süßlich brennender Geruch beißt in der Nase. Staub auf den Straßen weht wirbelnd durch die Luft.

Kaum Platz zum Lesen

Am Ende der Gasse bleibt Michael Maina vor einem dreistöckigen, bunt bemalten Haus stehen. Nicholas Kimeu steht hinter dem Blechzaun, auf dem in Grün gemalt steht: MYSA Mathare Library. Er unterhält sich mit anderen Jugendlichen. Michael Maina tippt ihm auf die Schulter. Ein verwunderter Blick, dann ein herzliches Umarmen. Die beiden bücken sich nacheinander durch den niedrigen Eingang der Bibliothek.

Drinnen hinter der Empfangstheke sitzen Kinder auf dem Boden und blättern in Bilderbüchern. Die Wände sind bunt bemalt mit Bäumen, Wiesen und spielenden Kindern. Im oberen Stockwerk stehen Regale voller Romane, Geschichtsbücher und Biografien auf Englisch und Swahili. Michael Maina streift einige Buchrücken entlang. »Die meisten Hütten hier sind winzig. Zugang zu Bildung gibt es kaum. Das ist daheim nicht vorgesehen, und es gibt auch einfach keinen Rückzugsort zum Lesen«, erzählt er, während er Bücher in die Regale zurückschiebt. »Teilweise leben acht Familienmitglieder auf engstem Raum. Ein Zimmer dient häufig als Wohnzimmer, Kinderzimmer und Schlafzimmer zugleich. Da gibt es einfach nicht genug Platz zum Lesen.«

Draußen vor den Fenster-Gitterstäben dreht sich rumpelnd eine Betonmischmaschine. Einige Schaulustige stehen herum. Ein älterer Mann stochert mit der Schaufel im Bauch der Betonmischmaschine. Dahinter stehen niedrige Mauern. Man erahnt den Grundriss für ein neues Haus. Dahinter hängen tropfende Kleidungsstücke über einer Wäscheleine. Nicholas Kimeu sitzt auf einem Stuhl am Fenster und verfolgt das Geschehen. »Wer weiß, vielleicht verlasse ich eines Tages diesen Ort. Aber vorher will ich hier etwas hinterlassen für die Zukunft. Nur vom bloßen Wunsch, hier wegzukommen, wird sich an diesem Ort nie et was ändern.« 

Korruption und Konflikte zwischen Nationalitäten und Stammeszugehörigkeiten bestimmen seit Jahren das Leben in Kenia. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Nairobi deutlich sichtbar. Selbst Wohnraum im Umland oder an den Stadtgrenzen ist für viele Einwohner Nairobis kaum bezahlbar. Rund um die Bankentürme und Regierungsgebäude im Stadtzentrum entstehen neue Straßen und weitere Hochhäuser. Häufig, bevor klar ist, wie ein Gebäude genutzt werden soll. Vorhaben, stattdessen Wohnungen in den ärmeren Vierteln zu bauen, sind immer wieder im Sand verlaufen. Nicholas Kimeu engagiert sich inzwischen dafür, in Mathare Bäume zwischen die Hütten zu pflanzen und die Straßen vor der Regenzeit besser zu befestigen. In einem seiner Texte schreibt er: »Wenn reiche Leute andere reiche Leute dafür bezahlen, da mit Handlanger dann die Ärmsten verantwortlich machen, ist das wie eine Nahrungskette, an deren Ende wir stehen.« 

Manchmal erstaunt es die Slumbewohner selbst, zu was einige Leute im Stande sind. Michael Maina

MYSA will mehr Chancen schaffen, damit Jugendliche in Mathare nicht mehr nur am Ende stehen. Neben Spenden verdient die Organisation inzwischen auch eigenes Geld. Am Hauptsitz in Komarock bieten Mitarbeiter Fitnesskurse und Physiotherapie an. So können Projekte und Personal weiter finanziert werden. Teilnehmer können zu Mitarbeitern ausgebildet werden. Sie bekommen Punkte, wenn sie bei Fußballturnieren, bei Aufräumaktionen in Mathare oder AIDS-Präventionskursen mitmachen, wachsen lang sam in die Organisation rein. Michael Maina hat selbst diese Erfahrung gemacht. »Weil die Menschen merken, dass es viel mehr Möglichkeiten gibt, versuchen sie inzwischen auch viel mehr, etwas aus sich zu machen.«

Die beiden Freunde sind weitergezogen, um etwas zu essen. Mit einer Schale Kochbananen in der einen Hand und einem Programmheft in der anderen Hand steht Michael Maina im Innenhof eines improvisierten Kulturzentrums. Er unterhält sich mit Nicholas Kimeu über das bevorstehende Filmfest. Einmal im Jahr organisiert MYSA das Mathare Youth Film Festival. Nicholas Kimeu will dort seinen ersten Film vorführen. Michael Maina hofft, mit dem Festival noch mehr Aufmerksamkeit für die Projekte und die Teilnehmer zu bekommen. Er ist überzeugt: »Die meisten Leute, die wirklich etwas erreicht haben, stammen von dieser Seite der Stadt. Sie sind einfach kreativer aufgrund der Umstände, aus denen sie stammen. Manchmal erstaunt es die Slumbewohner selbst, zu was einige Leute im Stande sind.« 

Poesie aus dem Slum

Michael Maina und die anderen Mitarbeiter gestalten Plakate, suchen weitere freiwillige Helfer. Zwischen den Filmen sollen auch Bands auftreten. Nicholas Kimeu stellt seine Schale zur Seite und räumt Teile einer Bühne aus dem improvisierten Büro vor die Graffiti-Wand des Innenhofs. »Einige Menschen hier denken, sie sitzen für immer in diesem Loch fest, egal, was kommt. Aber ich sage: Nein!« Er zieht eine Leinwand zum Ausrollen unter dem Schreibtisch hervor, atmet tief. »Ich habe Dinge im Fernsehen gesehen, Bücher gelesen. Und ich habe eine Vorstellung für mich von einem besseren Leben.« Inzwischen hat Nicholas Kimeu so viele Gedichte geschrieben, dass er sie als Band veröffentlichen könnte. Noch sucht er nach einem Verlag, einem Abnehmer. »Das Schreiben über Mathare und mein Leben hat mir sehr geholfen, mit schweren Phasen meines Lebens umzugehen. Trotzdem versuche ich, das Persönliche in meinen Texten so klein wie möglich zu halten.« 

Für den Rückweg zu seiner Hütte nimmt Nicholas Kimeu einen Umweg durch die steilen Gassen zwischen den Hütten. Nach dem Aufstieg auf festgetretenem Sandboden und Müllresten öffnet sich der Blick hinter einer Biegung. Auf der Anhöhe hinter einem Mauervorsprung bleibt Nicholas Kimeu stehen. Vor ihm liegt die riesige Fläche aus Brettern, Lehmwänden und Wellblechdächern der Hütten. Er dreht sich um und sagt: »Es geht hier nicht um mich. «

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