Mit dem Tod in der Cordillera

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Zu Fuss und mit Zelt wanderte unsere Autorin durch die peruanischen Anden. Trotz der beeindruckenden Naturkulisse in viertausend Metern Höhe ist es eine erschütternde Begegnung, die sie nicht mehr los lässt.

Die Zahl der Menschen, die uns seit dem ersten Tag begegnet waren, konnte ich an beiden Händen abzählen. Unser Fahrer Nazario war der erste. In seinem Kleinbus, auf dessen Rückbank wir uns die Glieder verrenkten, konnte der kurze Mann aufrecht stehen. Sein grober Wollpullover war viel zu groß für den zierlichen Körper. Sein Gesicht war von der Sonne gegerbt, der Blick klar. Mit der Rechten stützte Nazario sich an der unverkleideten Innenwand ab, während wir uns gemächlich, Steine und Ziegen umkurvend, die Anden hochschraubten. Keine noch so spitze Kurve konnte Nazario überraschen. Er kannte sie alle.

Seit 20 Jahren, sagte Nazario, fuhr er die knapp hundert Kilometer lange Route regelmäßig: Von Cajacay, einem kleinen Dorf in den peruanischen Anden, nach Llamac, ein noch kleineres Dorf und zugleich sein Geburtsort. In Cajacay lud er Touristen ein, und später noch ein paar Waren: etwa die drei Stellagen Inka-Cola und die sechs Packungen Klopapier, die bei jeder Wegbiegung quer durch den Bus rutschten. Unterwegs versilberte Nazario seine Waren wieder an zahlende Käufer. Nur mich und meinen Freund, die einzigen Touristen weit und breit, brachte er gegen ein kleines Trinkgeld weiter nach Cuartelhain. Dann deutete er seiner Rechten vage Richtung Bergkamm. „No les preocupen“, sagte Nazario, nur keine Sorge. Er war am Ziel – doch für uns ging die Reise jetzt erst richtig los.

Denn hier startete unser Trek. Nazarios beruhigenden Worten zum Trotz: ein bisschen Sorge hatte ich doch. Unser Weg sollte uns eine Woche durch den Gebirgszug Cordillera Huayhuash führen. Zwischen Kühen, Mulis und Lamas, vorbei an Gletschern und Seen, über Bergkämme auf 4.000 Metern Höhe. Eine wilde Welt. Wir waren Tageswanderungen entfernt von Arztpraxen, Supermärkten und sauberem Trinkwasser. Es war Ende Februar, die Zeit, in der die Cordillera den Einheimischen gehört. Die Zeit, die zu kalt ist, um Touristengruppen in die Berge zu führen. In hundert Kilometer Umkreis waren wir die einzigen Gringos.

Am ersten Tag der Wanderung sahen wir nicht viel außer Geröll. Erst am Abend, als die Wolken träge den Gipfel des Rondoy, diesem Koloss von einem Berg, umschwammen, fanden sie uns. Es waren Vater und Sohn. Beide trugen kniehohe Gummistiefel und Jogginghosen. Wir schnauften uns die Anstrengung aus den Gliedern. Als sie sich uns gegenüber setzten, fand ich kaum Luft in meinen Lungen. Doch, so schien es, brauchte man auf diesen Höhen ohnehin kaum Worte.

„Zum Huayhuash?“, fragte der Vater auf Spanisch.
„Sí.“
„Ihr wisst, das ist hin und zurück ein Fussmarsch von sieben Tagen?“
„Sí.“
„Ohne Führer?“
„Sí.“

Der Vater nickte wissend, während er an uns vorbeisah, den Blick zum Berggipfel gerichtet, hinter dem langsam die Sonne unterging. Er zog einen Block aus der Hosentasche, riss einen Zettel ab, schrieb etwas darauf. Eine Rechnung über 70 Sol Wegegeld, umgerechnet knapp 20 Euro. Die wenigen Einwohner der Communities, denen das Land gehört, verlangen von Besuchern einen Beitrag für die Übernachtung. Ein paar Scheine wechselten den Besitzer. Dann stapften zwei Paar Gummistiefel gemächlich von uns fort durch das feuchte Gras. Irgendwo außer Sichtweite musste ihre Hütte stehen. Jetzt im Herbst, wo kaum Touristen Geld über die Berge tragen, musste das Leben hier so rau sein wie der Wind, dachte ich mir, als ich mich im Zelt in den Schlafsack einmummelte.

Tag zwei führte mir vor Augen, was es heißt, Reisende zu sein. Wir genossen die Weite, die Abgeschiedenheit, die Wildheit der Anden. Bald würden wir in unser bequemes Leben in Österreich zurückkehren. Für die nächsten Menschen, die wir trafen, war diese Wildheit Alltag. Es waren ein Mann und eine Frau, die dieser Natur Tag für Tag ihre Lebensgrundlage abrangen. Er sah uns, als wir bis zu den Waden im warmen Wasser durch das Moor stapften. Die Lagune Carhuacocha war über die Ufer getreten und hatte das flache Talbecken mit einer Wasserschicht überzogen. Dutzende Pferde und Mulis grasten am Ufer, das Wasser störte sie nicht. Der Mann trug robuste Gummistiefel, einen Lederhut und Overall. Er war besser gerüstet als wir, in unseren Wanderstiefeln schmatze das Wasser bei jedem Schritt. Ob es einen trockenen Weg gab? Wir fanden ihn jedenfalls nicht. Der Mann winkte uns zu sich.

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Ein Andenbewohner führt uns zu seiner Hütte.

„Wollt ihr Forelle?, rief er, „kommt!“
Forelle klang gut. Ein trockener Ort auch. Und so gingen wir mit.
Der Mann führte uns zu seinem Zuhause. Hier, eingebettet zwischen See und Gletscher, standen drei steinerne, reetbedeckte Hütten. Eine war verfallen. Eine war zum Schlafen. Aus ihr kam nun eine Frau mit klaren Augen, Gummistiefeln an den Füßen, der schlanke Körper umspielt von einem bodenlangen Rock. Sie trug vier kleine, schimmernde Forellen in der Hand. Die dritte Hütte war zum Kochen. In diese verschwand die Frau für einige Zeit. Dann kam sie mit zwei Tellern zurück, auf jedem zwei knusprig-braune Forellen und zwei grünlich-schimmernde Kartoffeln. Wir setzten uns auf Pferdedecken unter freiem Himmel. Die braunen, feinen Haare fühlten sich angenehm warm an.

Wir aßen, verscheuchten die kleinen, verfilzten Hunde, die sich die Lefzen leckten. Dabei beobachteten wir den Mann, wie er ein junges Muli einfing. Er band es an einem hölzernen Pflock an und versuchte behutsam, eine der groben Decken auf seinen Rücken zu legen. In ein paar Monaten würde er aus dem Jährling ein Reittier gemacht haben. Die Fische schmeckten herrlich. Die Kartoffeln waren mehlig und trocken. Sie wuchsen hier auf über viertausend Meter Höhe, am gegenüberliegenden Hang standen die Pflänzchen in akkurat angelegten Reihen.

Wir bezahlten unser Mahl mit ein paar Sol, bedankten uns, stapften weiter, durch das Moor, der eisigen Gletscherluft und unserem Lagerplatz entgegen. In der Nacht des zweiten Tages ließ uns der Gletscher keine Ruhe. Jedes Mal, wenn ein Stück Eis knarzte, dann in die Tiefe stürzte, und im Wasser der Lagune aufschlug, schien es mir, als passiere dies eine Handbreit von meinem Ohr entfernt. Der Mensch, so heißt es, gewöhnt sich ja bekanntlich an alles. Aber auch an die Gefahr, an die Naturgewalten, an die Wucht eines Gletschersturzes? Als ich da so lag, nur von der durchfeuchteten Zeltwand von den Naturgewalten abgeschirmt, kamen mir diese Überlegungen wie Wunschdenken vor.

Am Morgen des dritten Tages hallten die Gletscherstürze in meinen Hirnwindungen nach. Der Regen trommelte, vom Zeltdach tropfte Wasser auf unsere Schlafsäcke. Wir stiegen in unsere klamme Kleidung, packten das Zelt ein und machten uns auf den Weg. Am dritten Tag wartete der Paso Siula, mit seinen 4.890 Metern darauf, überwunden zu werden. Wir kämpften uns die Schottermassen hinauf. Jeder Meter eine kleine Überwindung, bei jedem Schritt das Schmatzen der nassen Socken in den feuchten Stiefeln. Kaum war das Zelt am Lagerplatz aufgestellt, verschanzten wir uns. Tag drei bestand nur aus dem Prasseln des Regens und uns im Zelt.

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Tag drei verbringen wir im Zelt, nur ein Hund leistet uns Gesellschaft.

Heute ist Tag vier.
Die Berge um mich sind in unwirkliches Licht getaucht. Ein Zauber in dieser wilden, rauen Welt. Er schafft es nicht, meine Stimmung zu heben. Obwohl er prachtvoll begann, ist Tag vier ein Trauertag.

Als die Sonne auf zwölf Uhr stand, hatten wir schon den ersten Pass erklommen. Wir belohnten uns mit Nüssen und trockenen Müsliriegeln. Die Natur belohnte uns mit Sonne und der Unwirklichkeit der peruanischen Anden. Mir saß die Vorfreude im Bauch. Es war warm. Heute würden wir das Zelt neben heißen Quellen aufschlagen. Das erste Mal seit fünf Tagen würden wir uns waschen können. Diese Vorstellung allein war eine Verheißung.

Als wir die Plastikverpackungen der Müsliriegel in unsere Hosentaschen stopften, überholten sie uns. Eine Familie auf einem braunen, muskulösen Wallach. Am Rücken der Frau, in einem bunt gestreiften, groben Tragetuch, abgeschirmt vom Wind, hing ein vierjähriges Mädchen. Seine Backen rot, die Pupillen vor Neugierde geweitet. Die Mutter wendete ihren Blick schüchtern gegen Boden. Der Mann strahlte uns an.

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Eine einsame Hütte am Wegesrand.

„Woher seid ihr?“, fragte der Vater gleich auf Spanisch.
„Austria.“
„Oh, Australia“, er nickte. Die Länder klingen auf Spanisch sehr ähnlich.
„No, Austria.“
„Ah, Austria!“ Er lächelte das höfliche Lächeln der Uneingeweihten.
„Al lado de Alemania“, half ich: neben Deutschland.
„Ah, Alemania!“
Er nickte zufrieden. Deutschland, schien es, kannte man auch hier.
„A las aguas calientes?“, fragte er, ob wir zu den heißen Quellen gingen.
„Sí.“

Der Mann lächelte. Sonntags, so schien es, hatten nicht nur wir, sondern auch die Einheimischen gute Laune. Sonntag war Waschtag. Die Familie ritt zu den heißen Quellen. Wir brauchten länger. Zu Fuss über sumpfige Inseln aus giftgrünem Moos wanderten wir dem Lago Viconga entgegen. Als der See am Horizont auftauchte, diese stechend blaue Fläche, mutete er fast wie eine Fata Morgana an. Hier aus dem Nirgendwo entsprang also das Wasser, das in der Millionenmetropole Lima in die Duschwannen fließt. Am flachen Ufer des Sees graste eine Lamaherde. Weiße flauschige Jungtiere lagen träge im Gras. Hinter ihnen wuchsen die Berge in den Himmel. Die Sonne erhellte das Gletschereis. Das Weiß stach in den Augen. Das war Peru, wie man es aus Reisekatalogen kennt. Eine Postkartenidylle.

Entzückt trottete ich den schmalen Pfad neben der Lagune entlang. Das Hundebellen in der Ferne war zu vernachlässigen. Das Huftrappfeln hinter uns, das unvermittelt lauter wurde, zwang uns zu handeln. Wir sprangen zur Seite, den Hang hinauf. Sekunden später trabten sie vorbei. Ein Junge, kaum zehn Jahre alt, saß ohne Sattel auf dem Rücken eines braunen Pferds. Das Tier schnaufte durch die Nüstern. Der Junge stieß das atemlose Schluchzen eines Kindes aus seiner Kehle. Mit den ledernen Zügelenden holte er aus, und ließ sie mit der Kraft eines Halbstarken auf sein Tier nieder. Ein Luftzug, ein Schluchzen, dann waren die beiden vorbei.

„Que pasó?“, rief ich hinterher, irgendwas schlimmes musste passiert sein.
„Muerto!“, presste der Junge hervor, ohne zu erklären, was er mit „tot“ meinte. Dann verschwanden Pferd und Reiter im Stechtrab aus unserem Blickfeld. Minuten später, wir begannen den Abstieg ins Tal, sahen wir sie wieder. Das Pferd stand auf einem Felsvorsprung. Der Junge zusammengesunken auf seinem Rücken. Sein Schluchzen war lauter. Wir näherten uns langsam.
„Hola niño, que pasó?“, erkundigte ich mich erneut.
Geräuschvoll schluchzte der Junge auf.
„Te podemos ayudar?“ Können wir dir helfen?
Der Junge atmete hektisch. Ich stellte mich an die Flanke des Pferdes und strich über das seidige Fell.
Schließlich sagte er: „Mi…papa…esta muerto…“,
presste er unter zwei kurzen Atemzügen hervor.

Seine Augen waren rot, die Backen noch röter. Da war viel Staub in seinem kleinen Gesicht. Die schweren Tränen hatten ihn zur Seite gespült und konturlose Flecken freigewaschen. Sie zogen sich von den Augenhöhlen bis unters Kinn. Bei jedem Atemzug vibrierte der zierliche Körper. Ich fühlte ein Zittern unter meiner Hand, als ich über seinen Rücken strich. Was sollte ich sonst tun?
Sein Vater sei tot, hatte er gesagt.
Auch die schwarze Trainingsjacke war von einer Schicht dünnen Staubes überzogen. Wie reagierte man auf das Leid eines anderen? Hilflos strich ich weiter. Den Hals des Pferdes, den Rücken des Jungen entlang. Das Schluchzen, es wurde kaum leiser.
„No pasa nada“, sagte ich hilflos. Es sei doch nichts passiert.
Was für eine leere, dumme Aussage. Die Worte einer Unwissenden. Dieses Kind fühlte das genaue Gegenteil. Hier in der Abgeschiedenheit der Corriela Huayhuash, in dieser rauen, unwegsamen Welt, hier wo man jedes seiner Tiere mit Argusaugen hüten und dem Boden ein bisschen Fruchtbarkeit abringen muss, war es gerade erst passiert. Hier war ein Vater gestorben. Ein Vorbild. Ein Ernährer. Einer, der unersetzlich ist.

„Wohin gehst du?“, fragte ich den Jungen.
„Zu meinem Onkel“, schluchzte er.
„Wir begleiten dich, in Ordnung? Wo ist dein Onkel?“
Mit aller Kraft zeigte der Junge ins Tal. Sein zitternder Finger deutet auf einen blauen Punkt. Wie versteinert standen wir neben dem Jungen und seinem Pferd und sahen dem Punkt zu, wie er größer wurde. Mit großen Schritten kämpfte sich da jemand den steinigen Hang hinauf. Dann stürzte ein schlanker Mann in Trainingshosen auf uns zu.
„Que pasó?“, brüllte der Onkel. „Esta muerto!“, schluchzte sein Neffe.
Das Pferd schien verstanden zu haben. Es machte keinen Schritt von der Stelle. Auch nicht, als der Onkel die Arme um den Jungen schlang und aus seiner Kehle pure Verzweiflung drang. Eine Tonne Schmerz komprimiert in einem Laut. Ich wandte den Blick ab. Tränen verschwammen vor meinen Augen. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich war nutzlos, ich war starr, ich war Geröll. Der Mann schwang sich auf den Pferderücken, den Jungen vor sich, in der Hand die Zügelenden, die er auf die Pferdeflanken niederließ. Dann waren sie fort.

Mechanisch setzte ich einen Schritt vor den anderen, stieg ins Tal ab. Mich überrollte das menschlichste, doch vielleicht das sinnloseste aller menschlichen Gefühle: Mitleid. Was sollten wir schon tun? Der Boden verschwamm vor meinem Blick. Die beiden Gestalten, die uns entgegen den Berg hinaufstürzten bemerke ich erst, als sie schon fast vor mir standen. Ich sah in das Gesicht einer stämmigen Frau mit schweren schwarzen Zöpfen. In ihren Augen standen Tränen. In meinen auch. Sie verstand. Dann rannte sie weiter. Zur Totenwache?

Tag vier ist bald vorbei. Unweit von hier, in einer spartanischen, steinernen Hütte wütet die Trauer und reißt der Tod Löcher in Existenzen. Ich bewege meine Füße durch das warme Thermalwasser. Algenpartikel spielen um meine Zehen. Das kitzelt, aber angenehm. Die Sonne verschwindet hinter dem Gletscher. Das ist schön. Es zu genießen fühlt sich zynisch an. Heute ist Tag vier. Wir sind hier bald wieder weg. Woran der Vater des Jungen gestorben ist, werde ich nicht erfahren. Zu fragen, schien mir pietätlos. Sicher ist nur: Das harte Leben in der Cordiellra Huayhuash geht weiter.

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