Fest des Schneesterns

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Jedes Jahr kurz vor Fronleichnam findet im peruanischen Hochgebirge eine der größten Pilgerwanderungen Südamerikas statt. Mehr als 100.000 Gläubige kommen dabei zusammen und besteigen einen Gletscher, um Jesus und die Naturgötter zu ehren.

Ein letzter steiler, schweißtreibender Anstieg, und ich erreiche das Höhenplateau auf gut 5000 Meter Höhe. Nur langsam beruhigt sich mein Puls, und ich beobachte die berauschend schöne, vollkommen fremde Welt. Vor der spektakulären Bergkulisse steigen die ersten Pilger in ihren leuchtend roten Festtagstrachten auf den grellweißen Gletscher.

Im Schlepptau, mit Seilen abgesichert, transportieren sie ihre hölzerne Reliquie. Vor dem aufgestellten Kreuz senken sie andächtig die Köpfe und verharren einige Sekunden in stillem Gebet. Gebannt verfolge ich das Schauspiel.

Bereits zwei Tage zuvor beginnt für mich dieses Abenteuer Qoyllur Riti in Cusco. Buskolonnen stehen im Ort bereit, um die vielen Pilger ins vier Stunden entfernte Mahuayani zu bringen, den Startpunkt der Wanderung.

Einem Lindwurm gleich ziehen dort Scharen schwer bepackter, in farbenfrohen Festtagstrachten gekleideter Pilger musizierend in Richtung Kapelle, wo der Legende nach 1780 einem Schäferjungen das Christuskind erschien. Auf dem Grabstein des Jungen soll eine Christusabbildung zum Vorschein gekommen sein, die alsQoyllur Riti, quechua für „Schneestern“, bekannt wurde.

Christentum und Naturgötter in Eintracht



An den unzähligen Wegkreuzen entlang der 10 km langen Strecke halten die Pilger zur Andacht inne. Als endlich der Gipfel des 5400 Meter hohen Nevado Cinajara in Sicht kommt, opfern sie Kokablätter, um die Apus, die Berggeister, gnädig zu stimmen. Im Nebeneinander mit dem Christentum haben die Berge – als Brücke zwischen Menschen und Göttern – und die Mutter Erde, die Pachamama, ihren hohen Symbolwert behalten.

Nach gut vier Stunden erreiche ich das Ziel auf 4600 Meter Höhe. Umgeben von der majestätischen Bergwelt steht die Kapelle auf einer kargen, lediglich mit Ichu-Grasbüscheln bedeckten Hochebene, auf der bereits Unmengen von Ständen und Zelten aufgebaut sind.

Ich schlendere über das Festgelände und beobachte fasziniert, was um mich herum geschieht: die maskierten Tanzgruppen, die eine nach der anderen auf dem Vorplatz der Kapelle aufmarschieren; die Frauen, die in den notdürftig mit Plastikplanen abgedeckten, dampfenden Garküchen „pfutti“, eine kräftige Suppe aus Alpaccafleisch und gefriergetrockneten Kartoffeln, zubereiten; und die Gläubigen, die fünf Stunden lang Schlange stehen, um am Schrein des verstorbenen Hirtenjungen Mariano Kerzen anzuzünden.

Bei 15 Grad unter Null

Mitten im Trubel sorgen die Ucucus, mythische Kreaturen halb Mensch halb Bär – in Wirklichkeit Menschen in zottigen Bärenkostümen –, mit schrillen Pfeiftönen, notfalls auch mit sanften Hieben ihrer aus Lamaleder geflochtenen Peitsche für Ordnung. Die Chunchos, Tänzer aus der Amazonasregion, die sich als direkte Nachfahren der Inkas bezeichnen, ragen mit ihrem farbenprächtigen Ara-Federschmuck aus der Menge hervor.

Die Quellos, aus dem Aymara-Sprachraum, fallen hingegen durch Stoff-Lamas auf, die sich auf ihrem Rücken tänzelnd auf und ab bewegen. Mehr als 100 verschiedene Tänze werden bei Qoyllur Riti aufgeführt, wobei sich anhand der Kostüme und der Tanzstile erkennen lässt, aus welcher Region die Gruppen stammen.

 Nur langsam löse ich mich von der Magie dieses Ortes und stelle mein Zelt am Rande des bunten Treibens auf. An Schlaf ist allerdings kaum zu denken. Trotz Ohrenstöpsel sind die Gesänge und das rhythmische Trommeln auch mitten in der Nacht noch ohrenbetäubend laut.

Das Thermometer wird auf 15 Grad unter Null fallen, so kalt, dass das Wasser in meinen Trinkflaschen zu Eis gefriert. Trotz der klirrenden Kälte verbringen viele Pilger die Nacht unter freiem Himmel, eingehüllt in Plastikplanen und Decken. Einige schlafen überhaupt nicht; tanzend und musizierend, von Kokablättern und selbst gebranntem Zuckerrohrschnaps gestärkt, kämpfen sie gegen die Erschöpfung und den Schlafentzug an.Manche kommen sogar ganze drei Tage lang ohne jeden Schlaf aus.

Kreuz gegen Apus

Dieses freiwillige Martyrium fordert jedoch auch Opfer: Jedes Jahr erfrieren Pilger oder sterben an Erschöpfung. 

Unter strahlendem Sonnenschein und wolkenlosem Himmel verlasse ich am nächsten Morgen mit den anderen Pilgern den Zeltplatz. Das gefrorene Gras knirscht unter meinen nach der Nacht noch schwerfälligen Schritten.

Die Prozession auf den Sincara-Gletscher ist einer der Höhepunkte des Festes. Verkleidete Tänzer, die Pabluchas, tragen hölzerne Kreuze auf den heiligen Gletscher und widmen sich während der gesamten Nacht rituellen Zeremonien. Erst nach dem Sonnenaufgang am folgenden Morgen steigen sie feierlich zur Kapelle hinab. Insgesamt acht „naciones“, Provinzen aus der Region Cusco, schicken ihre Delegationen auf den Gletscher.

Der christlichen Symbolik des Kreuzes steht dabei der Glaube an die Apus gegenüber. Bereits inpräkolumbianischer Zeit wurden Berggipfel und Gletscher als heilige Orte verehrt,wo versucht wurde, mit den Geistern in Kontakt zu treten und sie mittels Opfergaben um reiche Ernten und gutes Wetter zu bitten. Die Gebräuche dieser archaischen Religion haben sich bei den andinen Bergvölkern bis heute erhalten und nach Ankunft der Spanier mit christlichen Elementen vermischt.

Heiliges Gletscherwasser vom Berg

Ein lang gezogener dumpfer Klang ertönt: Pututus, als Blasinstrumente umfunktionierte große weiße Muscheln, die bereits zu Inkazeiten als Kommunikationsmittel verwendet wurden, rufen traditionell zum Aufbruch der Prozession.

Angeführt von einer schwarz-rot gekleideten, wild musizierenden Pilgerkolonne aus Acomayo folge ich dem serpentinenartigen Geröllweg, dem Höhenplateau entgegen. Wanderer, beladen mit Kanistern voller Gletscherwasser und riesigen Eisstücken – der Glaube an die gesundheitsfördernde Wirkung des heiligen Gletscherwassers ist weit verbreitet – kommen uns auf dem schmalen Weg entgegen. Allmählich wird der Pfad steiler und das Atmen fällt schwerer.

Mit vor Anstrengung verzerrten Gesichtern quälen sich die beiden Kreuzträger mit ihrer schweren Last auf dem holprigen Zickzack-Weg keuchend vorwärts. Die Ehre, die ihnen mit dieser Aufgabe zuteil wird, ist ihnen dennoch deutlich anzusehen. Die Männer wurden von den Mitgliedern ihrer Gemeinschaft für dieses ruhmreiche Unterfangen ausgewählt, aufgeben kommt für sie nicht infrage.

Kreuz auf dem Gletscher

Dann beginnt es zu regnen, der Pfad verwandelt sich innerhalb kürzester Zeit in eine Schlammpiste. Mehrfach rutschen wir ab und können uns gerade noch auf den Beinen halten. Der Weg über die glitschige, lose Geröllmasse erfordert unsere ganze Konzentration. Das Geräusch entfernter Steinschläge hinterlässt zudem ein mulmiges Gefühl. Endlich erreichen wir den Gletscher.

Dort stehen Angehörige der Bergwacht bereit, um den Transport des Kreuzes auf den Gletscher mit Seilen abzusichern. Mühevoll arbeiten sich drei Pilger, das grüne Kreuz mit dem Christusemblem auf den Schultern, beim Anstieg über das Eis empor. Mit bangen Blicken und in absoluter Stille verfolgen die übrigen Gläubigen das gefährliche Manöver am Fuß des Gletschers.

Die andächtige Atmosphäre wird plötzlich durch laute Trommelschläge unterbrochen. Die nächste Prozession rückt bereits Richtung Gletscher vor, diesmal eine ganz in Gelb gekleidete Pilgerschar aus Antar. Einer nach dem anderen zieht sich mithilfe des Seiles aufs Eis. Am höchsten Punkt des Gletschers stellen sie das Kreuz auf, verankern es im Schnee und formieren sich im Halbkreis um die Reliquie.

Wünsche für ein paar Soles

Als wäre dieser Anblick nicht schon unwirklich genug, kommt trotz des Regens die Sonne zum Vorschein und lässt die Szenerie im grellen Gegenlichterstrahlen.

In einigen Metern Entfernung talabwärts wird dieselbe Zeremonie vorbereitet. Beide Gruppen werden bei zweistelligen Minustemperaturen auf gut 5000 Meter Höhe die Nacht verbringen, um den Berggottheiten so nahe wie möglich zu sein.

Ermattet begleite ich einige Pilger zurück zur Kapelle, wo bereits das nächste Highlight wartet. Qoyllur Riti, das „Fest der Wünsche, ist in vollem Gange. Die Gläubigen stellen kleine Spielzeugautos und Mini-Plastikhäuser in die aus Stein nachgebildeten Altäre oder klemmen ganze Bündel Papiergeld unter die Mauern. Mit einem Kinderspiel hat dieser Brauch allerdings nichts zu tun, vielmehr symbolisieren diese Miniaturausgaben die sehnlichsten Wünsche der Pilger.

Seine „Wünsche“ muss man allerdings nicht den Berg hinaufschleppen. Bei den Händlern ist alles, was das Herz begehrt, erhältlich: „Dreißigtausend Dollar für 5 Soles, dreißigtausend Dollar für 5 Soles“, brüllt ein Verkäufer in das Menschengewühl, „zwei Häuser zum Preis von einem“ ein anderer. Häuser, Lastwagen, Spielgeld verschiedener Währungen, Universitätsabschlüsse jeglicher Fachrichtung, Heiratsurkunden und natürlich das in Peru als Glückssymbol geltende Gürteltier werden von den Verkäufern angepriesen. Ich esse noch ein paar Anticuchos, Rinderherz-Fleischspieße, und lege mich völlig erschöpft ins Zelt.

Coca-Tee und eine Parade

Am nächsten Morgen – nach einem aufputschenden Coca-Tee – beobachte ich von einer Anhöhe aus die Rückkehr der Gruppen vom Gletscher. Kaum habe ich meinen „Logenplatz“ eingenommen, öffnet sich der Vorhang und macht die Bühne frei für ein neuerliches Spektakel. Von der tief stehenden Morgensonne ins Rampenlicht gerückt, marschieren die Pabluchas in Reih und Glied – einer Militärparade gleich – den Berg hinunter.

Die Erschöpfung, aber auch der Stolz ist in ihren Gesichtern deutlich zu lesen. Im Tal werden sie bereits von einer applaudierenden und tanzenden Menschenansammlung erwartet. Feierlich werden die Kreuze wieder an ihren Platz gebracht, dicht gedrängt stehen Hunderte Gläubige auf dem Kapellenvorplatz, um dem Schauspiel beizuwohnen. 
Auf dem Rückweg nach Cusco lasse ich die Qualen und Freuden der letzten Tage noch einmal Revue passieren. Trotz der Strapazen blicke ich mit Wehmut auf das „Fest des Schneesterns“ zurück.

Bei Qoyllur Riti, dem „Fest des Schneesterns“, verschmelzen uraltes andines Brauchtum und christliche Traditionen miteinander. Nicht umsonst wurde die Pilgerreise im Jahr 2011 von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

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