Vor dem Massentourismus

Myanmar erwacht

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Nach langer Unterdrückung endete 2010 in Myanmar, ehemals Burma, offiziell die Militärdiktatur. Seitdem öffnet sich das Land immer mehr für den Tourismus. Doch noch gibt es kaum entsprechende Infrastruktur und die alten Fäden der Militärjunta sind noch nicht ganz aus dem Land verschwunden.

Der Toyota-Van biegt von der großen Straße in ein zerlumptes Wohnviertel ein und schlängelt sich über eine staubige Straße zwischen engstehenden Mauern immer tiefer in ein Gewirr aus Blechhütten, vereinzelten Stromkabeln und Wäscheleinen.

Vor jeder Biegung des Weges verlangsamt unser Fahrer und hupt schrill auf, der Weg ist zu schmal für Gegenverkehr. Fünfzehn Minuten tiefer im Dickicht und Staub einfachster menschlicher Behausungen, stoppt er und spricht scheinbar willkürlich mit einem Jungen, der gleich davon läuft.

Wir halten etwas später in einer Baulücke, weit genug entfernt von den Mauern ringsherum, so dass wir den Platz gut überblicken können und warten im Wagen. Die Luftfeuchtigkeit ist drückend, die Kleidung klebt auf der Haut und kein Windhauch fällt durch die offene Schiebetür und bringt Erleichterung, auch nicht für einen kurzen Moment. Wir warten immer noch. Irgendwann taucht ein Mann in schmutzigem Unterhemd, kurzer Hose und Sandalen auf und kommt auf den Wagen zu. In einer Hand trägt er eine schwere, rote, zerknitterte Plastiktüte. Unser Fahrer tauscht ein paar schnelle Worte mit dem Mann, dann steigt er in den Wagen zu uns, legt die Plastiktüte auf die Ablage zwischen den beiden Vordersitzen und dann schwere Bündel Geld auf den Sitz zwischen uns.

„Ich habe keine Angst mehr vor ihnen“

Fünfhunderttausend Kyat. Wir zählen die Bündel aus Geldscheinen. Immer wieder werfen wir verstohlene Blicke nach draußen. Fünf ausdrücklich frisch gedruckte und nicht abgegriffene 100-Dollar-Noten sollten wir im Austausch geben. Noch vor einigen Tagen in Bangkok war es nicht so leicht gewesen, sie aufzutreiben, bis wir schließlich eine Bank fanden, in der sie darüber Bescheid wussten. In Rangun, der größten Metropole Myanmars, gibt es im Jahr 2012 noch keine Geldautomaten, Kreditkarten werden nicht akzeptiert, geschweige denn im Rest des Landes.

Der offizielle Wechselkurs der Banken liegt hoffnungslos niedriger als der Schwarzmarktpreis. „Er ist ein reicher Mann hier im Viertel, er hat zwei Fernseher“, erzählt uns unser Fahrer in etwas gebrochenem Englisch. Als der Van etwas später wieder auf die große Straße einbiegt, atmen wir plötzlich beinahe unmerklich auf und die Anspannung der letzten Stunden fällt von uns ab.

In einer Straße Ranguns spielen Kinder ein Boccia-Spiel mit alten Dosen.
Blick von einer Fußgängerüberführung auf eine vom feuchtwarmen Klima verwitterte, typische Fassadenfront Ranguns.
Auf dem Schwarzmarkt tauschen wir Geld gegen ausdrücklich druckfrische Einhundert-Dollar-Noten. Es gibt noch im Jahr 2012 keine Geldautomaten in Myanmar.
Wenige Touristen und Einheimische erklettern einen Tempel in Bagan kurz vor Sonnenuntergang.
Die Gegend um Bagan wird auch Tampadibad - Kupferland - genannt.
Frauen tragen von einem abseits gelegenen Brunnen Wasser in Tonkrügen zurück ins Dorf.
Mit Karren und Kuh wird in der Landwirtschaft gearbeitet.
Ein Arbeiter in Kyauk Myaung fertigt einen Krug in einer Tonwerkstatt.
Junge Mönche ziehen am Morgen durch die Straßen und sammeln Essensspenden.
Überladene Geländewagen transportieren Mensch und Waren über enge Passstraßen zum Inle-See.
Das einzige Transportmittel auf den weiten Kanälen rund um den See sind kleine, traditionelle Kanus mit Außenbordmotor.
Ein Büffel findet unter Aufsicht seines Besitzers Abkühlung im Kanal.
Schwimmende Tomatenplantagen am Inle-See. Viele Pflanzen werden auf schwimmenden Feldern bestellt. Mithilfe von Bambuspfählen werden die aus Sumpf, Erde und Wasserhyazinthen bestehenden, fruchtbaren Felder am Seeboden befestigt.
Innerhalb des Sees und an dessen Ufer gibt es 17 überwiegend von Intha bewohnte Dörfer, die auf Pfahlbauten errichtet sind.
Ein Fischer inmitten des Inle-See mit traditionellem Kanu und Fangnetz.
Einheimische Jugendliche fahren am Strand von Ngwe Saung der untergehenden Sonne entgegen.

Myanmar erwacht seit wenigen Jahren aus einem lange währenden Dämmerzustand, nach Jahren des Stillstands, internationaler Isolation und Unterdrückung unter der Herrschaft der Militärjunta. Präsident Thein Sein, ein früherer General, entließ im November 2010 die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi nach 15 Jahren aus dem Hausarrest, die Pressefreiheit ist heute weniger eingeschränkt, hunderte politische Gefangene kamen aus den Gefängnissen frei. Auch unser Fahrer für die nächsten drei Wochen, saß als Student im berüchtigten Insein-Gefängnis in Rangun.

„Ich habe keine Angst mehr vor ihnen“, sagt er, während wir durch die verwitterte Metropole fahren. Das Militärregime ist inzwischen einer formal zivilen Regierung gewichen, immer noch führt aber kaum ein Weg an den Generälen vorbei. Viele Bereiche des Landes dürfen nicht oder nur mit besonderer Genehmigung besucht werden. Die muslimische Volksgruppe der Rohingya gilt als eine der am unbarmherzigsten verfolgten Minderheiten der Welt.

Ein Asien vor dem Massentourismus

Zerbrochene Bürgersteige und verfallene Villen aus der britischen Kolonialzeit ziehen an uns vorüber. Der Putz bröckelt, viele Fassaden sind so schwarz gefärbt vom Schimmel wie die Wände des Bades unseres Hotelzimmers. Wir sind für ein paar Tage in einer Absteige ein wenig abseits des Zentrums an einer großen Straße untergekommen.

Noch gibt es nicht genügend Unterkünfte für Rucksackreisende. Immer mehr Touristen kommen nach Myanmar, auf der Suche nach einem Asien, wie es vor vielen Jahren einmal gewesen sein muss, bevor der Massentourismus es für immer verändert hat. Noch 2010 waren es gerade einmal 311.000 Touristen im Jahr, die nach Myanmar kamen, nicht einmal 2 Prozent der knapp 20 Millionen im benachbarten Thailand. Aber schon 2012 waren es beinahe doppelt so viele.*

Viele Kilometer weiter nördlich, in Bagan, einer historischen Königsstadt, in deren Umgebung sich über 36 Quadratkilometer mehr als 2000 Tempel aus Ziegelstein erstrecken, schauen wir uns an, nicken übereinstimmend und springen eilig in den Wagen. Die Fahrt mit dem Heißluftballon über das Areal ist schon seit einem Jahr ausgebucht, sie soll eine der schönsten der Welt sein. Unsere 5 Minuten Autofahrt vom Restaurant bis zu unserem Hotel ziehen sich wie eine Ewigkeit.

„Das Essen ist in Ordnung“

Zuerst hatte es bei Nils begonnen. Kurz darauf beginnt es auch bei uns anderen. Das Essen hatten wir unterdessen nur noch misstrauisch und voller Unbehagen zu uns genommen, in banger Ahnung, was auf uns zukommen würde. Es kommt noch schlimmer. In der Nacht liegen wir mit Gliederschmerzen in den Betten, ein ungekannter Druck scheint die Nieren einzuschnüren. Während ich auf der Toilette nur noch mechanisch nach Luft schnappe und die Haare aus dem Gesicht halte, höre ich ein Rumpeln und dann, wie sich im Nebenzimmer entweder Nils oder Martin übergeben.

Christopher liegt stöhnend auf dem Bett und versucht, einen Schluck Wasser zu sich zu nehmen. Die Anwesenheit der anderen beruhigt mich ein wenig. Auf dem Weg nach Bagan hatten wir in einem kleinen Dorf etwas abseits der stärker befahrenen Route angehalten. Einige der Kinder wurden von ihren Eltern an diesem Tag in ein Kloster verabschiedet. In Myanmar gilt ein solcher Tag als große Freude und es werden Feste gegeben.

Das ganze Dorf war auf den Beinen gewesen, und Besuch von Fremden an diesem Tag würde als Zeichen des Glücks verstanden, hatte uns unser Fahrer erklärt. Wir hatten allen Anwesenden die Hände geschüttelt, mit allen wichtigen Personen des Ortes Bilder machen sollen und waren zum Bürgermeister eingeladen worden, bevor wir uns auf der Terrasse des größten Hauses niederließen und Tee, Früchte, verschiedene Gebäcke und klebrigen Reis angeboten bekamen. Nachdem wir in der Nacht Ranguns arglos von den Garküchen am Straßenrand und den Ständen der Märkte gekostet hatten, waren wir leichtsinnig geworden. „Das Essen ist in Ordnung.“, sagte unser Fahrer. Nur 5 Stunden später wissen wir, dass er falsch gelegen hatte.

Wo gibt es einen Arzt?

„In Rangun und Mandalay gibt es ein Krankenhaus, und einen Arzt hier in Bagan.“, erzählt er uns am nächsten Morgen. „Andere Ärzte gibt es nicht. Nicht einen weiteren im ganzen Land.“ Das Antibiotikum, das wir übergeben bekommen, übersteht die Prüfung durch das Internet nicht, das es glücklicherweise im Hotel gibt. In Europa ist es schon lange nicht mehr zugelassen, da es in zu vielen Fällen zu tödlichen Nebenwirkungen kommen kann. Also müssen wir die Sache auf uns alleine gestellt überstehen.

Drei Tage später laufen wir noch immer geschwächt durch eine der faszinierendsten Tempellandschaften der Welt. Die meisten der Bauwerke stehen verlassen, nirgends wird Eintritt erhoben, nur an den beiden größten Tempeln versuchen Souvenirverkäufer ein wenig Geld zu machen. „Wie gut, dass ich heute hier sein kann. Wie viele Orte dieser Art bleiben noch, und wie lange?“, denke ich. Als wir von der Spitze eines der größten Bauwerke mit einer Handvoll anderer Besucher der Sonne zusehen, wie sie hinter dem Fluß Irrawaddy untergeht, an dessen Ufer sich die Stadt erstreckt, und dabei jedes Haus, jeden Baum und jeden Tempel in ein rotgoldenes Licht taucht, wissen wir, warum Bagan auch Tampadibad – Kupferland – genannt wird.

Auf unserem Weg von Bagan zum Inle-See, einem riesigen Süßwassersee mit Pfahlbauten, schwimmenden Tomatenplantagen und seinen berühmten Einbein-Ruderern fahren wir durch kleine Orte und ein weites Land. Überall begegnen uns neugierige Gesichter und Gastfreundschaft, wir lernen, wie man Thanaka aus fein geriebener Baumrinde herstellt, eine weißlich-gelbe Paste, die vor der Sonne schützt und von Frauen und Kindern in jedem Alter im Gesicht getragen wird. Je weiter wir nach Norden kommen, umso schlechter werden die Straßen und kleiner die Orte. Es fühlt sich an, wie eine weitere Zeitreise innerhalb unserer Zeitreise in die Vergangenheit eines geheimnisvollen Kontinents.

Abgrund in den Augen

Ich sitze ein wenig verstört, während der Van über die schlechten Straßen ruckelt, denn ich scheine nicht zu begreifen, was es ist, das ich in den neugierigen Augen der Kinder und in der vorsichtigen Scheu der Älteren sehe. Später denke ich plötzlich, vielleicht ist es die so unberührte Ursprünglichkeit alles Menschlichen, in die ich blicke und die ich kaum zu begreifen im Stande bin. Ich scheine für einen kurzen Augenblick eine Idee eines Geheimnisses zu erhalten, dessen Größe ich nicht zu fassen in der Lage bin. Im nächsten Moment nehme ich wieder das Dröhnen des Motors wahr, das Schwanken der Sitze und die Hitze. Noch heute scheint die Erinnerung an dieses Gefühl meine Zeit anzuhalten und alle Worte, es zu beschreiben, sind vergebens.

Ich stelle mir vor, wie es noch weiter in Norden sein muss, im Gebirge. Ich habe bisher nur wenige Orte auf der Landkarte gesehen, auf denen so wenige Straßen eingezeichnet sind. „Das Militär hat sich von dort zurückgezogen. In den Wäldern und auf den Hochplateaus leben noch einige Stämme nach ihren eigenen Gesetzen und Regeln, wie sie es seit tausend Jahren getan haben. Es ist wild da draußen, Ihr würdet nicht überleben“, sagt unser Fahrer.

Und dann werden wir plötzlich mit der beinahe vergessenen und doch noch so nahen Vergangenheit des Landes konfrontiert. In Kyauk Myaung beobachtet uns ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren argwöhnisch. Als wir an ihm vorüber fahren, treffen sich unsere Blicke für einen kurzen Moment, während ich aus dem Auto des Vans schaue. Ich habe das Gefühl, in einen Abgrund zu sehen.

Nein heißt Nein!

Wenig später, während wir uns eine Tonwerkstatt ansehen, kommt ein Mann und befiehlt unserem Fahrer, zum offiziellen Verwaltungsbeauftragten des Ortes zu kommen. Er verwehrt uns die Überfahrt über die einzige Brücke und wir müssen 4 Stunden Umweg auf uns nehmen, um nach Mandalay zu kommen. „Er war betrunken. Er hat nicht zugehört. Er lässt uns nicht über den Fluss. Er hat keinen Grund genannt. Er hat nur immer wieder Nein gesagt. Es ging ihm nicht darum, irgendetwas zu erklären. Er hat Nein gesagt, aus dem einzigen Grund, weil er es kann. Aber damit kommt er nicht durch. Ich habe ihm gesagt, er wird es bereuen. Diese Zeiten sind vorbei“, sagt unser Fahrer mit ruhigen, entschlossenen Augen, während er den Wagen wendet. Mit einem Mal scheine ich mehr von unserer eigenen, schändlichen Geschichte zu verstehen, von Missgunst, Boshaftigkeit, Denunziation, Unterdrückung und Willkür, als irgendeine Unterrichtsstunde bisher vermochte.

Zwei Tage später und kurz vor dem Inle-See auf einer bergigen Straße, durchsäht von Schlaglöchern, streikt das Auto. Nach 2 Stunden Arbeit und bis zu den Schultern mit Schmutz und Öl beschmiert, hat unser Fahrer es geschafft, wir ruckeln weiter in Richtung Pass. Am Abend schauen wir von den Toren eines Klosters über den See dem Sonnenuntergang zu. Außer uns ist niemand da.

Noch einmal einige Tage später, beinahe eintausend Kilometer weiter südlich, nachdem wir die absurde, von der Militärregierung mitten im Dschungel errichtete Hauptstadt Naypyidaw mit ihren sechsspurigen Straßen und klimatisierten, aber menschenleeren Einkaufszentren hinter uns gelassen haben, am Golf von Bengalen im indischen Ozean, fahren wir mit dem Motorrad von Ngwesaung nach Chaung Tha Beach, über Trampelpfade durch den Urwald und entlang des Strandes. Wir setzen auf Holzkähnen über das Meer und sehen einen maroden, auf eine Sandbank aufgelaufenen Ausflugsdampfer, der mich an die bröckelnden Fassaden der Villen aus der Kolonialzeit in Rangun erinnert. Insgesamt sehen wir in drei Wochen nicht mehr als 100 Touristen.

Am letzten Abend irgendwo am indischen Ozean hören wir unserem Fahrer zu, der zu den orientalisch anmutenden Klängen der Musik, die aus seinem Telefon ertönt, leise ein Lied singt. Immer wieder erhebt sich seine Stimme, wird lauter und scheint dem Himmel entgegen zu streben, bevor sie sanft wieder leiser wird und in unmerklicher Harmonie beinahe im Rauschen der Brandung untergeht. Irgendetwas im Klang der Worte sagt mir, dass es von Entbehrung erzählt. Und doch, stimmt es mich auf eine schwer zu erklärende Art hoffnungsvoll.

* Die Zahlen zu den Besuchern kommen von der Weltbank.

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