Auf den Spuren deutscher Kolonialgeschichte in Namibia

Radieschen in der Wüste

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Ende des neunzehnten Jahrhunderts ist Deutschland in das europäische Rennen um Kolonien eingestiegen. Das erste Schutzgebiet entstand in der Lüderitzbucht im heutigen Namibia. Ein Besuch, einhundert Jahre nach dem Ende der deutschen Herrschaft.

Die Schlange zieht sich über fast fünfzig Meter durch die letzten Ausläufer der Wüste. Die müden Arbeiter reihen sich geduldig in einer geraden Linie auf und warten darauf, dass sie sich in einen runtergekommenen Bus zwängen können. Außer der Fischfabrik am Ufer gibt es bis hin zu den Hügeln am Rand der Bucht, nur Sand zu sehen. Einige Meter abseits der Haltestelle zeichnet sich jedoch ein leicht zur Seite geneigter Steinsockel ab, an dem die Geschichte offiziell begonnen hat:

Im August 1884 versammelte sich eine kleine Gruppe aus Angestellten des Tabakhändlers Lüderitz, der Besatzung von zwei Kriegsschiffen sowie dem Kapitän John Fredericks II um diesen Sockel und hisste die deutsche Flagge. Hier, ganz im Süden Namibias, entstand die erste deutsche Kolonie.

Ein Jahr vor der Flaggenhissung hatte der Bremer Adolf Lüderitz die Bucht in der Hoffnung auf Rohstoffe, Geschäfte mit Südafrika, aber wahrscheinlich auch aus Abenteuerlust erworben. Es war kein sonderlich einladender Ort, besonders wenn man davor die grüne afrikanische Westküste entlang gefahren ist.

Überall Sand, diese Hitze und kein Süßwasser. Allerdings hatten sich Europas Mächte bereits einen Großteil Afrikas gesichert. Für zfradieweihundert Gewehre und einhundert Pfund Sterling kaufte Lüderitz dem Kapitän John Fredericks II, der in der dünn besiedelten Region um die Bucht mit seinem Klan lebte, Land in einem Umkreis von einigen Meilen ab.

Erstes Schutzgebiet in Afrika

Einmal niedergelassen, weitete Lüderitz sein Land immer weiter aus, wobei er sich zu Nutzen machte, dass die zwei größten Volksgruppen in der Region, die Nama und Herero, sich in ständigen Auseinandersetzungen befanden. Obwohl Reichskanzler Bismarck Kolonien eher ablehnend gegenüberstand, willigte er 1884 ein, auch Gebieten außerhalb Deutschlands staatliche Sicherheit zu garantieren. Die Lüderitzbucht war das erste Gebiet, dem dieser Schutz zugesichert wurde.

Mehr als ein Jahrhundert später zucken die Arbeiter skeptisch mit den Schultern. Ein Denkmal? Hier, wo sie gerade acht Stunden lang afrikanischen Aal zerlegt haben? Die abgelegene Stadt trägt noch immer den Namen ihres deutschen Gründers.

Die Hauptstadt Windhoek ist für die meisten Einwohner nur mit Minibussen zu erreichen. Eine lange Fahrt, die irgendwo zwischen sieben Stunden und zwei Tagen dauert und wie mit einem Lineal gezogen durch die immer gelblicher werdenden, weitläufigen Landschaften führt.

Schon kurz hinter der Stadtgrenze beginnt das alte Diamantensperrgebiet, das in etwa ein Drittel der Fläche Bayerns besitzt und Lüderitz auf Abstand zum Rest der Welt hält. Etwas mehr als 10.000 Einwohner leben heute in der Bucht.

In der Kleinstadt lernt man sich da schnell kennen. Zum Beispiel Boy aus der freiwilligen Feuerwehr. Er ist einer der wenigen Buchtler, wie sich die Bewohner der Stadt nennen, die sich auf beiden Seiten des immer noch tief sitzenden Keils zwischen schwarz und weiß bewegen.

Kurz Kolonialromantik schnuppern

Er zeigt mir seine Stadt, ruft an, wenn sich was tut im trägen Alltag. In seinem in die Jahre gekommenen Alfa Romeo fahren wir in das Zentrum. Der Stadtkern wird immer noch von den Häusern der deutschen Siedler geprägt.

Gut in Stand gehalten zählen die Kolonialbauten zu einer der großen Sehenswürdigkeiten in den Reiseführern. Alle paar Wochen legt ein Kreuzfahrtschiff an und überschwemmt die Innenstadt mit Urlaubern, die das Zentrum in eine ungewohnte Hektik versetzen.

Die Touristen können kurz Kolonialromantik schnuppern und danach gibt es Bier und Austern, die in dem eiskalten Atlantikwasser fabelhaft wachsen. Im Zentrum befindet sich auch das Stadtmuseum. Es werden vor allem Ausstellungsstücke der Kolonialzeit gezeigt und daneben gibt es noch ein paar vergilbte Schautafeln zu Ureinwohnern, Tieren und Steinen der Region.

Die Museumswärterin erzählt mir vom Deutschen Klub, der sich in der Turnhalle trifft und so eine Art Lesezirkel sei, bevor sie sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zuwendet. Noch immer leben zahlreiche deutschstämmige Familien in der Stadt und neben deutschem Radio bekommt man auch eine deutschsprachige Tageszeitung.

Über dem Eingang zur Turnhalle hängt das alte Schild des Männerturnvereins. Eine Treppe führt in den ersten Stock, wo in einem holzverkleideten Raum fünf Männer umzingelt von alten Fotos, Postern und einem Jägermeisterplakat an einem Tresen sitzen und Bier trinken. Der Deutsche Klub, eine Bar, die so auch in jeder tristeren Ecke in Deutschland stehen könnte. Jedes Getränk kostet umgerechnet fünfundsiebzig Cent und nur Mitglieder dürfen bestellen, was ziemlich häufig vorkommt an diesem Abend.

Trinkspiel mit einem Plastikkrokodil

Nach einem Schnaps spricht mein Nachbar als einziger in der Runde Deutsch, das sich immer wieder mit Afrikaans, Englisch und einem leichten Lallen vermischt. Werner, ein Mittfünfziger mit groben Arbeiterhänden, ist direkt aus seiner Autowerkstatt in den Klub gekommen. Vor über dreißig Jahren ist er nach Lüderitz gefahren, um Urlaub zu machen, hat eine Frau kennengelernt und ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

Den Deutschen Klub hat er mitgründet, weil er mit seinem Hund nicht mehr in den Yachtklub gehen durfte. Die Männer diskutieren über einen Beschluss des Präsidenten Lüderitz kurzfristig in !NamǂNûs, in die Sprache der Nama, umzubenennen. Angeheitzt werden die Gespräche von einem Trinkspiel mit einem Plastikkrokodil das zuschnappt, wenn man den falschen Zahn drückt. Über Literatur wird den ganzen Abend nicht gesprochen.

Schon kurz nach der Flaggenhissung musste Lüderitz sein Land unter großem Verlust an die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika verkaufen. Die Kolonie erreichte eine Ausdehnung von fast 1.200 Kilometern Länge, die sich von der südafrikanischen Grenze bis zum portugiesischen Angola im Norden erstreckte.

Im Gegensatz zu den anderen deutschen Kolonien wurde Deutsch-Südwestafrika, wie das Gebiet genannt wurde, zu einer Siedlerkolonie. So sollte es nicht nur billige Rohstoffquelle werden, sondern auch Bauland für ein neues Deutschland in der Ferne, um der Emigration in die USA entgegenzuwirken. Auf die zirka 200.000 Bewohnern kamen später etwa 12.500 Deutsche.

Als ersten offiziellen Verwalter des Schutzgebiets entsandte das Deutsche Reich Ernst Göring, den Vater des späteren Reichsfeldmarschalls in Nazideutschland. Später ausgestattet mit zwei Dutzend Soldaten, verwaltete er ein Gebiet größer als das Deutsche Kaiserreich. Die deutsche Unterdrückung sorgte immer wieder für Unruhen. Im Jahr 1904 entlud sich die Wut mit voller Wucht, als sich erst die Herero und später auch die Nama erhoben.

Vernichtungsbefehl von General von Trotha

Erbitterte Kämpfe mündeten in dem Vernichtungsbefehl des Generals von Trotha. Ohne Rücksicht wurden zurückweichende Herero einschließlich Kindern und Frauen nach einer Schlacht in eine Wüste getrieben, in der ein Großteil verdurstete. Gefangene wurden in Konzentrationslager gesperrt, von denen eines auf Haifischinsel, einer Halbinsel bei Lüderitz, eingerichtet wurde. Von den ursprünglich 100.000 Herero und Nama überlebte schätzungsweise nur ein Viertel den deutschen Kolonialismus.

Entlang der Schotterstraße, die aus dem Stadtzentrum hinaus führt, ist nicht mehr viel von dem Kolonialflair zu spüren. Am Hügel hinter der Bucht wachsen kleine Hütten aus Wellblech, alten Werbetafeln und was auch immer sonst noch zu Verfügung stand, die Felsen hinauf. Dazwischen Spelunken wie dem German Town oder dem George Weah, in denen es ähnlich zugeht wie im Deutschen Klub, nur ohne weiße Buchtler.

Die Fischfabriken locken Arbeitssuchende aus dem Norden hierher. Die Arbeitslosenquote ist hoch und viele schlagen sich mit informellen Jobs unter der Armutsgrenze durch das Leben. Die Ungleichheit in Lüderitz ist nicht zu übersehen. Schaut man die Bucht hinab, erkennt man in der Ferne die Felsenkirche, eines der kolonialen Wahrzeichen.

An den Wochenenden überschwemmt der Alkohol die Stadt. „Lüderitz – A small drinking town with a fishing problem“, steht auf T-Shirts, die in einer der beliebtesten Bars unter Touristen verkauft werden. Jägermeister und Bier nach „pure Reinheitsgebot“ fließen in Strömen. Die alte Kegelbahn ist auch noch in Betrieb. Einmal die Woche treffen sich hier die sogenannten Radieschen zum Training.

Die Wände sind voll mit alten Mannschaftsbildern und Urkunden des Kegelvereins. Das älteste Foto zeigt die Radieschen im Jahr 1906. Auf den Fotos posieren die weißen Männer in ihren Kegeloutfits, sonnenverbrannt im unteren Teil der Gesichter und hell weiß ab der Stirn, wo der Hut vor der Sonne schützte.

Die Bahn ist immer noch die gleiche. Drei der neun Spieler sind deutschstämmig, ein paar arbeiten als Fischer, andere sind nur zu Besuch während ihrer Semesterferien in Südafrika. Aus der Stereoanlage dröhnt „wir feiern vom Balkan bis nach Bayern“, während die erste Kugel die abgenutzte Holzbahn heruntergeworfen wird. Nach dem ersten Spiel wird von den Stühlen im Eingangsbereich gemeinsam der alte Vereinsspruch der Radieschen ausgerufen, der mit „du Sau, du Sau, du Sau“ endet.

1990 erreicht Namibia seine Unabhängigkeit

Als sich der erste Weltkrieg nach Afrika ausbreitete, waren die deutschen Truppen chancenlos unterlegen. Im Juli 1915, vor einhundert Jahren, wurde die Kolonie an die Südafrikanische Union übergeben. Erst 1990 erreichte Namibia seine Unabhängigkeit von Südafrika. Auf eine deutsche Entschuldigung für die Verbrechen wartete man in Namibia lange. Im Jahr 2004 sprach die damalige Entwicklungsministerien Wiecorek-Zeul über die moralische Verantwortung der Deutschen. Entgegen der offiziellen Haltung Deutschlands bat sie „im Sinne des gemeinsamen Vater unser um Vergebung unserer Schuld“.

Die Straße zur Haifischinsel führt vorbei am Hafen, an dem auch die Diamantenschiffe liegen. Am Ende befindet sich ein Campingplatz. Innerhalb weniger Minuten zieht eine Nebelschwade vom Meer über die Stadt und legt alles unter einen weißen Mantel. Eine Steintafel erinnert an Kapitän John Fredericks II und seinen Klan, der auf dem Land, das er einst Lüderitz verkauft hatte, in dem Konzentrationslager umkam.

Davon steht allerdings nichts auf der Tafel ebenso wenig wie von dem Lager an sich. Nur ein paar Meter weiter wird an die deutschen Gefallenen erinnert und daneben an einen Segler, der in den achtziger Jahren von Lüderitz aus den Atlantik überquert hat. Die Touristen, die zum größten Teil aus Südafrika kommen, erfahren von der Vorgeschichte des Campingplatzes meist nichts.

Abends ist es sehr ruhig in Lüderitz und die Kolonialbauten erscheinen wie substanzlose Fassaden eines Filmstudios. Ballsaal, Turnhalle, Bücherei. So ganz hat der koloniale Geist die Stadt allerdings nie verlassen. Auf den deutschen Kolonialismus folgte südafrikanische Apartheidpolitik und auch ein Jahrhundert nach dem Abzug, sträubt sich Deutschland noch immer, seine Verbrechen anzuerkennen.

Stattdessen wird mit verstärkter Entwicklungszusammenarbeit versucht der historischen Verantwortung gerecht zu werden. Nicht gerade viel für ein Land, das sonst so gerne historische Aufarbeitung einfordert. Die Spuren sind jedoch eindeutig und in der trockenen Hitze von Lüderitz bestens konserviert worden.

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