Chaos in Karatschi

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Offiziell ist Pakistan eine Demokratie und ein Helfer im Kampf gegen den Terror. Doch wie sieht es eigentlich im Land selber aus? Unser Autor reiste im September 2014 nach Karatschi und in die umliegende Provinz Sindh und berichtet von Terror, Korruption und Kriminalität.

Natürlich. Nawaz Scharif und Zardari sind über Nacht zu Demokraten geworden und die Taliban sind alle mit dem Boot in den Irak“, sagt ein Mittfünfziger mit gequältem Lächeln und deutet dabei über den abgesperrten Strand von Clifton aufs Arabische Meer. Dann fährt er fort: „Auch wenn die pakistanischen Taliban geschwächt sind und ihre Antwort auf den Einmarsch der pakistanischen Armee auf sich hat warten lassen. Vor drei Tagen ist der Sohn des schiitischen Führers in Karatschi erschossen worden und gestern gab es vor der Küste einen Angriff auf ein Boot der pakistanischen Marine – drei Soldaten wurden entführt. Das vor drei Wochen mehrere Maskierte in Karatschi drei Sufis in einem Schrein erschossen haben, gehört dagegen zum täglichen Wahnsinn in unserer Stadt.“

Wir hatten über die derzeitigen Demonstrationen in Islamabad gesprochen, und die aktuelle Zurückhaltung der pakistanischen Taliban. Die Plakate von Leichen direkt neben der Absperrung des Strandes passt zu unserer Stimmung. Vor sechs Wochen sind hier an einem Tag 45 Menschen ertrunken, seitdem dürfen die eh schon gebeutelten Bürger Karatschis nicht einmal mehr an den Strand ihrer Stadt. Dabei ist er einer der wenigen Orte an dem man nicht Angst haben muss, ein Opfer der täglich etwa 20.000 verübten Straftaten Karatschis zu werden, oder eines der jährlichen 2500 Opfer ethnisch und politisch motivierter Auftragsmorde.

Zwar hatten die Polizei und die Rangers vor ein paar Monaten mehrere „Säuberungsoperationen“ durchgeführt, was die Bürger kurzfristig aufatmen ließ, doch fehlte auch diesmal die Nachhaltigkeit: Die großen politischen Parteien der 18 Millionen Einwohner Metropole sind weiterhin an der Macht – angeblich werden sie von Bandenchefs beherrscht.

Taliban mischen bei Erpressung und Schutzgeld mit

Auch die pakistanischen Taliban (TTP) wildern weiter in den vorwiegend mit Paschtunen bewohnten Außenbezirken Karatschis: Das tun sie nicht um missionarische Arbeit zu leisten; In Karatschi ist man zum Geldverdienen mit Erpressung und Schutzgeld. Dabei bevorzugen sie sogenannte weiche Ziele: die ethnischen Minderheiten.

„Die Taliban spazieren einfach in die Wohnungen unserer Mitglieder, die in den illegal gebauten Siedlungen in den Randbezirken Karatschis liegen. Im besten Falle stellen sie die jeweilige Familie vor die Wahl, eine hohe Geldsumme an sie zu zahlen oder das Haus zu verlassen. In der Regel übernehmen die Taliban einfach die Wohnung oder das Haus. Wir haben in diesem Land keine Lobby“, erzählte mir ein Angehöriger der islamischen Sondergemeinschaft Ahmadiyya vor kurzem nicht zum ersten Mal. Unter der Bhutto Regierung wurden die Ahmadyyas in den Siebzigerjahren per Gesetzt als Nicht-Muslime eingestuft. Ihr Makel: Sie glauben nicht, dass Mohamed der letzte Prophet war. Auch in ihrem Fall hat keine der demokratisch gewählten Regierungen, die seit sechs Jahren das Land regieren, nur einen Finger gekrümmt.

Vater und Sohn auf offener Straße erschossen

Am nächsten Tag stehe ich etwas ratlos vor einem Stand mit Fruchtsäften am Lee Market im Stadtteil Lyari. Eigentlich sollte dort einer meiner bevorzugten Teestände sein. Da kommt einer der stämmigen Lastenkutscher und schlägt mir lachend etwas zu kräftig auf die Schulter: „4000 US-Dollar Schulden. Weg ist er.“ Dann zwinkert er mir zu und sagt leise aber freudig grinsend: „No problem. Er ist Okay.“

Die Freude, dass mal ein kleiner Teeverkäufer die „Großen“ übers Ohr gehauen hat, ist dem Lastenkutscher deutlich anzumerken. Noch gestern war hier in der Nähe ein Vater und sein dreijähriger Sohn auf offener Straße erschossen worden; einfach so. Ob das Opfer den Schutzgeldforderungen der hiesigen Banden nicht nachgekommen ist, oder ob ein anderer Grund hinter der Hinrichtung stand, wird wohl auch diesmal nicht aufgeklärt werden.

Fest steht nur, dass in Lyari immer noch die P.P.P (Pakistan People Party) das Sagen hat, eine der zwei großen demokratischen Parteien Pakistans. Ihr Parteivorsitzender Zardari steht gerade in Islamabad Nawaz Scharif bei, um die Demokratie Pakistans zu retten. In Lyari, der wichtigsten Handelsgegend Karatschis, stützt sich die P.P.P zum Machterhalt auf die Schusskraft bewaffneter Banden und den hier lebenden Belutschen.

Ohne Geldquellen gibt es keine Macht

Den Rest der Innenstadt kontrolliert die MQM, die die 1947 aus Indien übergesiedelten Mohajirs vertritt. Sie ist die am besten organisierte „Gang“ Karatschis und hat laut Dokumenten, die Wikileaks veröffentlicht hat, bis zu 25.000 Mann unter Waffen. Das sind etwa 7000 mehr als die Polizei Karatschis, wenn man die Beamten abzieht, die als Personenschutz für Politiker und andere V.I.P abgestellt sind. So bleibt ein Polizist zum Schutz von 1524 Bürgern Karatschis übrig. In London ist das Verhältnis 1 zu 152.

Am nächsten Morgen sitze ich in einem der buntverzierten Rumpelbusse der Stadt. Neben mir ein junger Mann der Bohra, einer Abzweigung der Sunniten. Letzte Woche sei er auf der gleichen Buslinie ausgeraubt worden, erzählt er, und der Rest der Businsassen dazu: „Vor den letzten Wahlen kam der MQM-Führer unserer Gegend ins Gemeindezentrum und erklärte ganz offen, dass sie rausfinden werden, wenn wir ihm nicht unsere Stimmen geben. Dann hätten wir als religiöse Minderheit niemanden mehr, der uns bei stehte“.

Kurz darauf stehe ich auf dem Empress Markt, wo auf dem kolonialen Uhrenturm die rote Fahne der Awami Liga (ANP) mittlerweile in Fetzen hängt. Sie war die dritte politische Kraft Karatschis und kurz davor, der MQM militärisch gefährlich zu werden. Aber die Taliban waren in den Randbezirken einfach die brutalere Gang und haben die Geldquellen der ANP übernommen. Doch wie sagte ein Einheimischer letztes Jahr zu mir: „Weiter als Orangi werden die Taliban nicht nach Karatschi vorstoßen. Hier ist es nicht, wie in ihren Bergen.“

Tausende fliehen nach Karatschi, wieso?

Die MQM habe jahrzehntelange Erfahrung im Großstadtkrieg. Bis jetzt hat der Mann Recht behalten. Ansonsten ist am Empress Markt alles beim alten. Hunderte obdachlose Männer und Frauen sitzen vor den Restaurants und warten auf kostenlosen Tee und Fladenbrot, während die Raubvögel durch die Gassen schweben. Obwohl es auch den kleinen Geschäftsbesitzern Karatschis wirtschaftlich nicht gut geht, scheint es für sie eine moralische Pflicht, jeden Hungrigen mit einem Frühstück zu versorgen. An kaum einem anderen Ort ist Herzlichkeit reiner und klarer zu erkennen. Vielleicht weil sie in Karatschi inmitten von lähmender Angst und brutaler Gewalt gelebt wird.

Täglich strömen Tausende mehr in die Mega-Metropole. Die Balutschen und Paschtunen fliehen vor den bewaffneten Auseinandersetzungen in ihren Regionen. Warum die restlichen Landbewohner an einen Ort wie Karatschi flüchten, wird verständlich, sobald man den Blick in die ländlichen Gegenden nördlich wirft: Ansammlungen von Lehmhütten mit Strohdächern, umgeben von Feldern auf denen Baumwolle, Chili und Getreide angebaut wird. Dahinter karge Steinwüste, dann wieder ein paar Lehmhütten. Die Namen der Dörfer spielen keine große Rolle, auch nicht ob die Bewohner Hindus, Christen oder Muslime sind. Von Karatschi bis hinunter zur Provinz Punjab sieht es in der Region Sindh beinahe überall gleich aus.

Kreislauf der Abhängigkeit

Beinahe gleich sind auch die Bedingungen unter denen die Dorfbewohner leben. Die Hälfte der Ernte hat man den Landlords abzugeben, viele der Schulen werden als Lagerhäuser benutzt. Funktionierende Krankenhäuser sind rar. Die großen Landlords sind gleichzeitig auch die gewählten Volksvertreter und in der Regel vertreten sie die Partei der Bhutto Familie, die Pakistan People Party (PPP). Diese hat ihren Sitz in Larkana. Wenn man in Enzyklopädien nachschlägt, trifft man in Verbindung mit den Bhuttos öfter auf die Wörter: linksliberal, demokratisch, sozial. Trotzdem reicht auch für die Lebensbedingungen der Untertanen der Bhuttos in Larkana ein Wort aus. Mittelalter.

Die Rechtfertigungen der „Könige“ des Sindhs klingen nicht anders als ihrer „Kollegen“ in Indien oder Nepal: „Wir geben ihnen Arbeit und Unterkunft. Sie sind wie unsere Kinder, ohne uns würden sie doch verhungern.“ Schulen und Bildung würden den jahrhundertealten Kreislauf der Abhängigkeit wohl nur stören; das wissen auch die Bhuttos. So wurde in den Jahren 2008 bis 2013, als die Bhuttos mit ihrer PPP nicht nur Sindh sondern auch Pakistan regierten, der eh schon mickrige Bildungsetat weiter gekürzt.

Der jetzige Premier Pakistans, Nawaz Scharif, ist zwar Industrieller, aber da auch er nicht an den Pfeilern des jahrhundertealten Abhängigkeitsverhältnisses zwischen „König“ und Untertanen rüttelt, sind auch ihm die Stimmen der Landlords seiner Region Punjab gewiss. Dass auch seine Partei, die PML-N, ein Familienunternehmen ist, in dem der Vorsitzende nicht gewählt sondern bestimmt wird, ist da beinahe logisch.

Alles hängt miteinander zusammen

Doch einen Unterschied nannte mir einer der wenigen gebildeten Mittelständler der Provinz. „Egal ob die Scharifs oder die Bhuttos, beide sind sie korrupt. Doch während die Bhuttos einen großen Teil ihres Vermögens ins Ausland bringen, investieren die Scharifs ihr gestohlenes Geld wieder in den Punjab.“ Deshalb gebe es in Lahore zumindest drei Mal so viel Polizisten pro Einwohner wie in Karatschi.

Alles hängt hier miteinander zusammen: Dass Sharifs Gegenspieler Imran Khan bei den letzten Wahlen im Mai 2013 halb so viele Stimmen erringen konnte, aber sechs Mal weniger Parlamentssitze bekam. Dass gerade Teile der Mittelklasse Pakistans in Islamabad auch mit undemokratischen Mitteln wirkliche Demokratie erzwingen wollen. Dass Menschen so verzweifelt sind, dass sie an einen Ort wie Karatschi flüchten. Dass die pakistanischen Taliban nur als eine von vielen kriminellen Gruppen sich in Karatschi ihre Kriegskasse auffüllen können.

Anmerkung des AutorsReisewarnung des Auswärtigen Amtes
„Bei meinem letzten Besuch in Karatschi, kurz nach dem Schulmassaker im November 2014 in Peschawar wurden allein in zwei Feuergefechten 16 Taliban von der Polizei erschossen. Im Jahr 2014 wurden im Schnitt jeden Tag mehr als 9 Menschen in Karatschi Opfer eines Gewaltverbrechens (In ganz Deutschland sind es etwa 0.8 am Tag). Aktuell steht eine neue großangelegte „Säuberungsaktion“ der Rangers und der Polizei in Karatschi an; die gefühlte 108 in den letzten Jahren. Doch der Schlüssel zu einer Befriedung Karatschis ist meiner Meinung nach der Multi-Millionär Altaf Hussain. Er ist der Führer der MQM und zieht von seinem Exil in London aus die Fäden in der Partei. Gerade trat er von seinem Posten als Vorsitzender zurück, das gefühlte 109 Mal, nur um kurz darauf vom Rücktritt zurück zu treten. Wenn ihm das Handwerk gelegt werden könnte, würde die MQM in kürzester Zeit unter internen Machtkämpfen zusammenbrechen. Doch da in Pakistan eine große politische Krähe der anderen nicht das Auge aushackt (mal abgesehen von Imran Khan), sind derzeit die englischen Behörden die einzige Hoffnung: da sie ein Verfahren wegen Geldwäsche gegen Altaf eröffnet haben. Nebenbei ist Imran Khan wieder ins pakistanische Parlament zurückgekehrt nachdem er  er mit seinen Anhängern mehre Monate die Gegend vor dem Parlamentsgebäude in Islamabad besetzt hatte. Seine Anhänger hoffen, dass er dieses Mal mit Taten in seiner Provinz Khyber Pakhtunkhwa, die aktuelle Form von Demokratie in Pakistan zu Fall bringen kann.“
„In Karachi kommt es häufig zu innenpolitisch, religiös, ethnisch oder kriminell motivierten Anschlägen und Auseinandersetzungen bis hin zu bewaffneten Straßenschlachten. Wegen der angespannten Sicherheitslage und der hohen Kriminalität sollte vom Besuch abgelegener Stadtbezirke abgesehen werden. Vor Stadterkundungen sollte ortskundiger Rat eingeholt werden. Generell empfiehlt sich für Besucher eine enge Abstimmung ihrer Reisepläne mit den Partnern vor Ort oder mit dem deutschen Generalkonsulat in Karachi. Auch im inneren Sindh besteht eine Gefährdung durch hohe Kriminalität.“ Stand 12.4.2015

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