New Yorker Schauspieler mit Behinderung

Die Unglücksraben

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Wer in einer Show auf dem New Yorker Broadway spielt, hat es als Schauspieler geschafft. Nahezu unmöglich scheint es für Künstler mit Behinderung zu sein. Sie kämpfen trotzdem für ihren Traum und geben nicht auf.

Mal wieder hat es nicht geklappt. Rachels Schauspielleistung ist, wie so oft, zur Nebensache geworden. Das passiert immer, wenn die Jury bei einem Casting ihre Bein-Prothese bemerkt. „Du bist so inspirierend. Danke vielmals für dein Kommen. Du hörst von uns!“ Natürlich weiß Rachel in diesen Momenten, dass sie nie wieder von ihnen hören wird.

So auch bei ihrem jüngsten Vorsprechen für eine Broadway-Show: die Gaunerkomödie „A Gentleman’s Guide to Love and Murder“ für die Rolle der Phoebe (Role Description: beautiful, virtuous, forthright, romantic, comically earnest, with a backbone of steel!). Mittlerweile ist das schon über ein halbes Jahr her. Dabei hatte sich die 27-Jährige diesmal ernsthaft Hoffnungen gemacht. „Meine Gesangslehrerin kennt den Regisseur und es ist eine Rolle, zu der meine Stimme perfekt passen würde“, sagt sie resigniert. Doch Rachel kann, will und wird nicht aufgeben. Denn sie hat einen Traum.

Dieser Traum wohnt am Times Square in New York. Dort wo bunte Werbung von den Fassaden blinkt, wo gelbe Taxis hupen wie wütende Quietscheentchen und wo Menschen zwischen Wolkenkratzern wuseln wie Ameisen. Hier liegt das berühmteste Theaterviertel der Welt, voller schillernder Shows über Löwenkönige, Opern-Phantome und Wunderlampen.

25.000 Schauspieler wollen es schaffen

Dass Rachel nicht die einzige ist, die diesen Traum träumt, merkt sie jedes Mal, wenn sie mit Hunderten Konkurrenten in meterlangen Warteschlangen für Castings steht. Schätzungen zufolge leben weit über 25.000 professionelle Schauspieler in New York. Und Verbände wie die Asian American Performers Action Coalition kritisieren, dass weiße Schauspieler gegenüber Afroamerikanern (16 Prozent), Latinos und Asiaten (je 3 Prozent) auf New Yorker Bühnen mit 77 Prozent überrepräsentiert sind. Rachel ist zwar weiß. Sie gehört mit ihrer Behinderung aber jener Schauspieler-Minderheit an, deren Winzigkeit hier noch niemand gezählt hat. Am Broadway dürfte sie gegen Null gehen.

Dabei ist es gerade mal vier Jahre her, als die junge Frau aus New Jersey in den überfüllten Proberäumen der Castings beste Chancen hatte. Rachel war damals gerade erst nach New York gezogen – mit einem erstklassigen Abschluss aus Princeton in Musical- und Opern-Performance in der Tasche. Eine leidenschaftliche Tänzerin. Voller Stolz berichtet sie, dass sie schnell Rollen in kleineren New Yorker Theatern fand. „Regisseure kannten meinen Namen“, sagt sie und fügt mit Überzeugung hinzu: „Ich war auf Broadway-Kurs.“

Damit war es in der Sekunde vorbei, als Rachel nach einem Autounfall im März 2012 ihren abgerissenen Fuß neben ihrem Körper liegen sah. Trotz aller Schmerzen dachte sie noch an zwei Dinge: „Zuerst an meine Eltern, sie mussten doch wissen, was passiert war.“ Und gleich darauf: „Ich werde niemals mehr am Broadway spielen. All die harte Arbeit war umsonst. Das war der härteste Moment meines Lebens.“ Aber Rachel will jetzt kein Mitleid. Das wäre in einer Branche sowieso nur geschäftsschädigend, in der es um Happiness und Perfektion geht.

Die Beine gut versteckt

Gerade sitzt sie nicht weit von der Aladdin-Spielstätte in einem der angesagten Bio-Fastfood-Restaurants. Die Beine gut versteckt unter dem gedeckten Tisch. Es ist voll hier. Und laut. Über Geschirrgeklapper und Gespräche ist das eigene Wort kaum zu verstehen. Trotzdem triumphiert ihre trainierte Stimme: „Nice to see you! How are you?“ Über dem weißen Pulli glitzert eine Halskette, die langen brünetten Haare rahmen ein Gesicht mit vornehmer Blässe und braunen Augen ein. Man kann sie sich gut in ihren bisherigen Rollen vorstellen. Sie spielte Eliza in My Fair Lady, Königin Anne in Richard III. oder Schneeweißchen in dem Märchen.

Bei dem Autounfall auf einem Highway in New Jersey war Rachel ausgerechnet auf dem Weg zu einem Casting. Der Traum von der nächsten Rolle wurde zum realen Albtraum, von jetzt auf gleich Invalide. Und damit könnte die Geschichte der Schauspielerin Rachel Handler hier zu Ende sein. Der Vorhang gefallen über dem letzten Bühnenbild, das sie im Krankenhausbett zeigt. Einen Verband um den Rest ihres linken Beins gewickelt. Weinend beim Anruf des Regisseurs, der ihr eine Rolle zusagen will, aber noch nichts von dem Unfall weiß. Elend wie eine Figur aus Victor Hugos auf die Bühne gebrachten Roman Les Misérables, begleitet vom Lied der todtraurigen Fantine:

I had a dream my life would be
So different from this hell I’m living
So different now, from what it seemed
Now life has killed the dream I dreamed

Ich hab‘ geträumt, mein Leben wär‘
ein Schicksal außerhalb der Hölle.
Gott gibt den Wünschen keinen Raum,
nichts blieb mir mehr von meinem Traum.

Der nächste Akt

Aber Rachels Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Der nächste Akt beginnt 40 Blocks südlich vom Times Square mit der Szene eines Dokumentarfilms. Dort wo der Broadway keine Traumfabrik mehr ist, sondern nur noch eine Verkehrsstraße. Durchs Schneegestöber stapft eine Frau um die 50 in einem dicken Mantel, die Haare kurz und die Stimme schroff, aber herzlich. Sie wirkt wie jemand, der einem nach einer schlimmen Trennung sagt: Komm schon, hör auf zu heulen! Es gibt noch so viele andere Fische im Wasser! Die Frau heißt Stephanie Barton-Farcas und sie ist Regisseurin.Vor 14 Jahren hat sie das erste inklusive Theaterprojekt der Stadt gegründet: die Nicu’s Spoon Theater Company.

Der Name dieses Theaters geht auf einen rumänischen Waisenjungen zurück, um den sich Stephanie bei sozialer Freiwilligenarbeit in den 1990ern gekümmert hatte. Nicu war geistig und körperlich behindert, stets staunend über die Reflexion des Sonnenlichts in seinem Esslöffel. Er starb bald an Aids. Doch sein Leben währte lang genug, so dass Stephanie ihn nie wieder vergessen konnte und sich fortan für Menschen mit Behinderung in ihrer Branche einsetzte.

Fast zwei Jahrzehnte nach Nicus Tod läuft Stephanie also durch den Dokumentarfilm eines jungen russischen Filmemachers. „Die Unglücksraben (Two and Twenty Troubles)“ handelt davon, wie die Regisseurin ein Tschechow-Stück mit einer Handvoll behinderter und nicht-behinderter Schauspieler auf die Bühne eines kleinen New Yorker Theaters bringen will. Nicht als Therapie. Nicht als Wohltätigkeit. Sondern als gutes Theaterstück. Mit dabei: Rachel Handler.

Anderthalb Jahre ist es her, dass sie ihren linken Unterschenkel bei dem Autounfall verloren hat. Es stehen noch weitere Operationen an, und wenn Rachel nicht aufpasst, könnte sie den Oberschenkel auch noch verlieren. Warum also tut sie sich die anstrengenden Theaterproben und sogar einen Filmdreh an?

„Es war der eigenartigste Zufall überhaupt“, sagt sie rückblickend, „dass ich schon vor meinem Unfall in Stephanies Aufführungen mitgespielt habe, ohne überhaupt zu wissen, dass es inklusive Projekte für Schauspieler mit Behinderung waren.“ Erstaunt erfährt sie von Stephanie, dass sie nicht trotz, sondern wegen ihrer Behinderung eine Rolle in dem Tschechow-Stück bekommen könne. Rachel muss nicht lange überlegen: „Meine Karriere war nicht vorbei. Dieser Gedanke gab mir neue Kraft.“ Es wird der tragischste Moment des gesamten Films, als sie die Proben wegen einer dringenden Operation schließlich doch abbrechen muss.

Zombie-Rollen wegen entstelltem Gesicht

Aber davon weiß Rachel in jener Szene noch nichts, als sie sich auf Krücken durch den kleinen Proberaum schwingt und als Hausmädchen Dunjascha den Filmtitel aussprechen darf, indem sie ihren vom Pech verfolgten Bühnen-Verlobten einen „Unglücksraben“ nennt.

Die reale Rachel könnte damit auch sich selbst meinen. Oder ihre Kollegen in dem Proberaum. Zum Beispiel den Mann, der nur Zombie-Rollen bekommt, weil sein Gesicht von Geburt an durch eine Fehlbildung entstellt und mehrfach operiert ist. Oder die Frau, der im Alter von sechs Jahren alle Haare vom Kopf fielen. Oder den anderen Hauptprotagonisten des Dokumentarfilms: Anthony M. Lopez, der wie Rachel nur ein gesundes Bein hat. All diese scheinbaren Unglücksraben stehen im Zentrum des Films von Victor Ilyukhin.

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Filmemacher Victor Ilyukhin. Foto: Markus Huth

Für den jungen Filmemacher aus Russland sind sie aber mehr als das: „Sie sind Menschen, die trotz schlimmer Schicksalsschläge nicht aufgeben wollen, die immer weiter für ihre Träume kämpfen“, sagt er in seinem kleinen Büro in Manhattan. Für ihn ist es ein universelles Thema. Aber das Interesse von Investoren an Schauspielern mit Behinderung ist gering. Jedenfalls musste Victor, dessen Assistenten-Job für einen bekannten Künstler gerade so zum Leben reicht, seinen Film durch Crowdfunding und Selbstausbeutung finanzieren. Das Theaterstück wurde auch nicht am Broadway aufgeführt, sondern nur Off-Off-Broadway: je mehr Off, desto weiter weg von der Traumfabrik am Times Square.

Minderheit, bei der jeder jederzeit Mitglied werden kann

Aber warum ist das so? Schließlich sind Helden, die gegen alle Widrigkeiten für ihre Träume kämpfen, das klassische Thema aus Musical, Film und Theater. Eine Antwort gab der inzwischen verstorbene Dramatiker John Belluso: Das Publikum fürchte sich vor Behinderten, „weil es die einzige Minderheit ist, bei der jeder jederzeit Mitglied werden kann.“ Ein Autounfall wie bei Rachel genügt und man ist unfreiwillig in einer Gemeinschaft, die in den Augen vieler durch Ausgrenzung und Hilfsbedürftigkeit geprägt ist. Daran wolle keiner gerne erinnert werden.

Andererseits faszinieren Figuren mit Behinderung. Sie können beim Publikum starke Emotionen auslösen. Filmschauspieler witzeln sogar, dass man für einen Oscar entweder in einem Film über den Holocaust oder eben einen Behinderten spielen muss. Dustin Hoffman gelang das in Rain Main, Daniel Day-Lewis in My Left Foot oder jüngst Eddie Redmayne mit seiner Darstellung des Astrophysikers Stephen Hawking. Alle diese Schauspieler haben eines gemeinsam: Sie spielen eine Behinderung, haben selbst aber keine. Ihre Rollen sind rührende Metaphern über das Leben. Erleichtert kann das Publikum aufatmen, wenn es die Stars wieder unversehrt auf dem Roten Teppich sieht. Alles nicht so schlimm. Es war doch nur gespielt.

Einen, den diese Distanzierung stört, ist Anthony M. Lopez. Neben Rachel der zweite Hauptdarsteller der Unglücksraben. Auch er trägt eine Bein-Prothese, wurde aber mit seiner Behinderung geboren. Das Inklusions-Theater war für ihn nach vielen Rückschlägen der Versuch, seine Schauspieler-Karriere wiederzubeleben – und der Versuch glückte. In den vergangenen zwei Jahren bekam Anthony immer mehr Aufträge, konnte schließlich seinen Brotjob als Social-Media-Manager an den Nagel hängen und lebt heute in einer hippen Wohnung zwischen Büchern und Gemälden in Brooklyn. Während sich der Blick von seiner Dachterrasse auf Manhattan öffnet, erzählt er, wie ihm das gelang.

„Egal ob Behinderung oder nicht, die wichtigste Regel für einen Schauspieler lautet: Kenne deinen Typ!“ Der 30-Jährige ist schlaksig, hat eine Glatze und schaut durch seine rote Hipster-Brille immer eine Spur zu streng. „Ich bin der etwas vertrottelte Typ, manchmal auch der Fiese“, meint er ohne eine Miene zu verziehen. Äußerlich ist seine Prothese nicht zu erkennen. Allein der hinkende Gang verrät sie. Für ihn sei das nicht so schlimm wie für Hauptrollen-Typen, meint Anthony. Er sieht es sogar als Vorteil, weil er Aufträge in der Behinderten- und der Nicht-Behinderten-Welt bekommt. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Werbespots, TV-Rollen, Webclips, als Synchronsprecher und in Off-Broadway-Shows. Die schillernde Broadway-Industrie, die Theater- und Musical-Darsteller mit wenigstens 1.800 Dollar pro Woche immer noch am besten bezahlt, sieht er hingegen kritisch. Vor allem wegen solcher Geschichten wie mit Daniel Radcliffe.

Daniel Radcliffe als „Krüppel“

Dazu muss man wissen: Der Broadway ist nicht nur eine Traumfabrik, sondern auch eine Geldmaschine. Allein in der vergangenen Woche spielten die 25 laufenden Shows über 24 Millionen Dollar ein. Und wie ein Auto Benzin, braucht diese Maschine Stars, die zahlende Zuschauer locken. Solche wie Daniel Radcliffe, der als Harry Potter weltbekannt wurde. Im vergangenen Jahr spielte er die Hauptrolle in der Broadway-Komödie „Der Krüppel von Inishmaan“. Die Kritiker feierten ihn unter anderem für seine glaubhafte Darstellung der Behinderung von „Krüppel“ Billy, dessen Körper teilweise gelähmt ist. Broadway und Hollywood funktionieren hier nach denselben Regeln.

„Ich bin sicher, Radcliffe war wunderbar“, sagt Anthony mit strengem Blick, „aber ich kenne talentierte Schauspieler mit Behinderung, die diese Rolle hätten spielen können. Sollten nicht nur Darsteller mit Behinderung Figuren mit Behinderung spielen dürfen?“ Anthony, der sich in Rage geredet hat, findet: Ja. Es ist eine Debatte, die in den USA derzeit von einer immer selbstbewusster auftretenden Gemeinschaft behinderter Schauspieler geführt wird. Das geht bis zum Vergleich mit dem sogenannten „Blackfacing“, bei dem weiße Darsteller ihr Gesicht schwarz schminken, etwa um den dunkelhäutigen Shakespeare-Feldherrn Othello zu mimen.

Wird es klappen?

Solch radikale Kritik an der Unterhaltungsindustrie ist Rachel fremd. Dabei räumt sie ein, dass sie trotz einiger Rollen von der Schauspielerei nicht leben kann und nebenbei in einer Eventagentur jobben muss. In Rage gerät sie hingegen bei der Frage, ob sie nach einer gewissen Zahl an erfolglosen Castings ihren Traum nicht überdenken möchte. „Frage niemals Schauspieler in New York, ob sie den Broadway aufgeben! Wer hier lebt, verfolgt diesen Traum!“ Sie war bislang einfach nicht gut genug für den Broadway. So sieht sie es.

Deswegen will Rachel jetzt noch mehr Unterricht nehmen, sich noch besser auf das nächste Casting vorbereiten, auf ihre große Chance warten und solange eben auf kleineren Bühnen spielen – bald auch wieder mit Nicu’s Spoon Theater Company. Sie ist sich sicher: Irgendwann wird es klappen.

Diese Frau, die da gerade aus dem Restaurant in die wuselnde Menschenmasse am Times Square verschwindet, scheint nichts aufhalten zu können. Trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung.

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