Gojal in Pakistan

Heile Welt in Gefahr

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Im Norden Pakistans zwischen China und Afghanistan liegt die Region Gojal. Hier leben die Menschen gemeinschaftlich in Oasen voller Aprikosenbäume mit viel Respekt und Toleranz ihrem Nächsten gegenüber. Doch diese heile Welt steht vor großen Schwierigkeiten.

Obwohl einige der Kleinstadt- und Dorfbewohner noch in Stein-Lehmhäusern leben, sieht man auf den Straßen in der Region Gojal im Norden Pakistans keine armen Menschen –  aber auch keine reichen. Wer hier Geld hat, zeigt es, in dem er einen hohen Betrag für die Gemeinschaft spendet. Die Analphabetenrate in der neuen Generation ist gleich Null, und schon die Kleinsten mit ihren Schnoddernasen wachsen zwei- bis dreisprachig auf. Trotzdem leben die Alten und die Jungen noch gemeinsam in einem Haus.

Die Frauen auf dem Basar in der Ortschaft Gulmit strahlen in ihren langen, hochgeschlossenen Kleidern eine würdige Eleganz und ihr Lächeln eine Natürlichkeit aus. Die Polizisten sitzen mangels Beschäftigung meistens in den Teeläden am Hafen, wo sie die 6.000 Meter hohen Passu Kathedralen bewundern. Wenn die Uniformierten die Langweile zu erdrücken scheint, geht es auch mal zum 2.600 Meter hoch gelegenen Borith-See, in dem sich der 7.388 Meter hohe Ultar spiegelt. Hier hat die 63-jährige Frohnatur Mr. Khan sein Hotel und bevor es für mich einen Tee gibt, schmeißt er sein altes Radio an. Es wird dann zu den Klängen traditioneller Wachi-Musik gemeinsam über die Terrasse gehopst.

Was wie das Paradies auf Erden scheint, nennt sich Hunza-Gojal und ist Heimat der Ismailiten, eine islamische Glaubensgemeinschaft. Das 8.500 Quadratkilometer große Gebiet liegt im Karakorum-Gebirge in Nord Pakistan und grenzt an China und den Wakhan Korridor zu Afghanistan. Nur etwa 20.000 Menschen leben in diesem riesigen Canyon, der gespickt ist mit atemberaubenden Siebentausendern und gewaltigen Gletschern. Diese machen sich die Menschen zu nutzen, um mit Hilfe von Wasserkanälen Oasen voller Aprikosen, Apfel- und Kirschbäume zu schaffen.

Räuber der Seidenstraße

Wenn einem die Gojalis, wie die Bewohner der Region genannt werden, mit ihrem gutmütigen Blicken und toleranten Wesen mal wieder zu heilig erscheinen und man sich selbst voller Sünden vorkommt, hilft nur eins: „Ach, du alter Räuber der Seidenstraße, nun lass mal gut sein.“ Dann sieht man ein gespielt beschämtes Lächeln über das gegerbte Gesicht eines älteren Herrn huschen, denn natürlich war man auch hier nicht immer so „perfekt“. Von Orten wie dem 700 Jahre alten Gulmit Fort überfielen die Vorfahren der Gojalis Handelskarawanen auf dem Weg zur Seidenstraße.

Auch das Denken war früher nicht so fortschrittlich: „Als ich vor 40 Jahren Besuch von einem Verwandten bekam, nahm der mich beim Abschied zur Seite und fragte tadelnd, was ich denn für ein Mann sei, da ich so freundlich zu meiner Frau sei“, erzählt mir ein alter Bewohner Gulkins. Doch als gegen Ende der Siebzigerjahre der Karakorum-Highway vom südlich gelegenen Rawalpindi endlich Gojal erreichte und über den 4.700 Meter hohen Khunjerab Pass nach China führte, kamen auch die Entwicklungsprogramme und Schulen der Aga-Khan-Stiftung.

Aga Khan ist das geistige Oberhaupt der Ismailiten. Jetzt, im Jahr 2014, sind es Männer aus Dörfern wie Passu, die in den Süden Pakistans reisen und mit Hilfe von NGOs Entwicklungsarbeit leisten. „Geduld, man hatte sehr viel Geduld mit uns“, sagt mir ein älterer Herr aus Shishkot und fügt trocken hinzu: „Normalerweise fehlt bei Entwicklungsprogrammen die Nachhaltigkeit. Ein paar Schulen, Geld und dann verziehen sich die NGOs zum nächsten Ort“.

Riss zwischen den Generationen

Am Nachmittag auf dem Polo-Platz in Gulmit sitze ich mit einer angesehenen Persönlichkeit der hiesigen Gemeinschaft zusammen. Vor uns spielen die Jungen Fußball, während die Mädchen im Gemeinschaftshaus ein Seminar abhalten. Thema: Wie sehe ich Gojal in zehn Jahren. „Auch wir merken hier langsam die Kehrseiten des Fortschritts. Gerade die jungen Männer und Frauen, die aus dem Süden Pakistans zurückkommen, leben in einer Computer und Fernseh-Welt. Ihre Wünsche sind unrealistische Träume und sie haben die Fähigkeit verloren, unserer Gemeinschaft mit nützlichen Ideen weiter zu helfen.“

Während unserer Unterhaltung kommen Kinder und Jugendliche und grüßen meinen Gesprächspartner ehrerbietig und so sage ich kopfschüttelnd: „Und trotzdem lebt ihr in einer Gemeinschaft, die in der westlichen Welt ausgestorben zu sein scheint. Wie macht ihr das?“ Bescheiden lächelnd antwortet er: „Unser geistiges Oberhaupt Aga Khan gibt uns Ratschläge. Er sagt zum Beispiel, dass Rauchen oder das Trinken von Alkohol nicht gut für die Gesundheit sei. Doch wie man die Ratschläge umsetzt, bleibt jedem selbst überlassen. Toleranz. Toleranz ist das Fundament unserer Gemeinschaft, denn jeder Mensch hat sein eigenes Tempo.“

Dieser Mikrokosmos ist umso bemerkenswerter, da das Schicksal die Menschen Gojals in den letzten Jahren hart getroffen hat. Der größte Schlag wurde schon im Jahr 2002 von einem tadschikischen Ingenieur vorausgesagt. Er machte die Gojalis darauf aufmerksam, dass sich 13 Kilometer vor Gulmit, an einer besonders engen Stelle des Canyons, ein großer Erdrutsch anbahnt. Trotzdem bauten die Menschen Gulmits weiter Häuser und Hotels an das Ufer des Hunza Flusses.

Handel und Tourismus versiegt

„Hätten wir die Menschen zwingen sollen?“, antwortete einer der damaligen lokalen Verantwortlichen auf meine Frage, warum die Menschen nach der Warnung nicht umgesiedelt worden sind. Im Januar 2010 passierte es dann. An exakt der vorausgesagten Stelle kam es zu einem riesigen Erdrutsch, der dem Hunza Fluss den Weg versperrte. Sieben Monate später hatte sich ein 23 Kilometer langer und 100 Meter tiefer See gebildet, der große Teile Gulmits überflutete und die Ortschaft Shishkot zu einer Insel machte.

Heute ist der See immer noch 13 Kilometer lang und Gojal vom Rest Pakistans abgeschnitten und nur per Boot erreichbar, was den Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte der Region unrentabel macht. Auch die andere Einnahmequelle der Gojalis, der Tourismus, ist völlig versiegt. Dafür ist nur teilweise der schlechte Ruf Pakistans verantwortlich. Noch bis vor ein paar Jahren gab es ein Visa on arrival am nördlichsten Grenzübergang Pakistans, in Sust, für ausländische Gäste, die aus China einreisten.

Doch nicht nur das wurde eingestellt: Auch in touristischen Hochburgen wie Nepal, Indien oder Thailand stellen die pakistanischen Konsulate keine Visa mehr aus. So verwundert es nicht, dass die Menschen im Norden Pakistans nicht vom „war against terrorism“ sprechen, sondern vom „war against tourism“. Zudem überschwemmt das Schmelzwasser des Gulkin-Gletscher in den letzten Sommern regelmäßig den Karakorum Highway Besonders für die Alten und Kranken ist der Fußmarsch durch das eiskalte Wasser eine Tortur. An manchen Tagen ist selbst das Durchwaten unmöglich und dann muss jeder zu Fuß über den Gletscher – mit Koffern, Kleinkindern oder der Ziege.

„Warum sollen wir Indien hassen?“

Ich treffe die Kricket Mannschaft von Gulmit, die auf ihrem Rückweg von einer Niederlage im Charpursan Tal unterwegs ist. Einer von ihnen trägt ein Indien-Trikot und fünf andere Mützen mit der indischen Flagge. Als sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck sehen, antwortet einer von ihnen lachend: „Warum sollen wir Indien hassen? Selbst unsere Polizisten hören indische Bollywood-Musik.“

Am Borith-See hat Mr. Khan neben den ausbleibenden Gästen noch andere Probleme. Gemeinsam geht es auf den benachbarten schwarzen Gulkin-Gletscher. In der Mitte treffen wir auf ein großes Wasserloch, von dem Plastikrohre das Wasser hinunter ins Dorf transportieren: „Die Gletscher gehen zurück und beinahe jedes Jahr müssen wir neue Kanäle anlegen. Doch die Jungen ziehen der Arbeit wegen in die großen Städte nach Süd-Pakistan“, sagt Mr. Khan. Dann lacht er plötzlich, zeigt auf seinen angespannten Oberarm und fügt hinzu: „Aber wir Alten sind stark und wir werden kämpfen bis die Jungen wieder zurückkommen.“

Vom Borith-See geht es eine Stunde Richtung Osten bis zum weißen Passu-Gletscher. In einem schmalen Streifen zwischen der Gletscher-Moräne und den schroffen Steinwänden des Borith Sar sind kleine Alpen. Von dort geht es auf den Gletscher, der um diese Jahreszeit wirkt wie eine riesige weiße Boa in unruhigem Schlaf. Überall kracht es, es öffnen sich Spalten und Flüsse fließen aus Eiswasser. Doch bevor ich mir einbilden kann, Reinhold Messner zu sein, kommt mir im Eislabyrinth ein Alter in abgelatschten Turnschuhen entgegen. Als ich ihm meine Bewunderung ausspreche, winkt er nur müde ab und sagt: „Im Frühling und Herbst laufen hier selbst unsere Kühe rüber.“

„Das Paradis wird weiter leben“

Zurück am Borith-See stehe ich mit dem Sohn von Mr. Khan auf der Hotel Terrasse. Die letzten Jahre studierte er in Peschawar und konnte seinem Vater nur in den Sommermonaten helfen. Ich sage ihm, dass ich das Paradies in Gojal langsam dahin schwinden sehe und nenne ihm einige Beispiele – unter anderem, dass die Jugend abwandert oder die Chinesen, die zurzeit den Karakorum Highway ausbessern und einen Tunnel oberhalb des Atabad Sees bauen.

Sie überschwemmen die Gegend mit billigem Alkohol und ihr eher geschäftsorientiertes Verhalten scheint schon auf die Gojalis abzufärben, wie man an der Taxi Mafia am Hafen in Gulmit sieht: Mangels eines funktionierenden staatlichen Transportsystems saugen Einheimische Einheimische aus. „Nein, es sind nur ein paar wenige und auch sie muss man verstehen. Wir haben hier jede Möglichkeit, Geld zu verdienen, verloren. Doch auch die paar Menschen werden wieder zur Besinnung kommen. Unser Paradies mag zurzeit in Schwierigkeiten sein, aber schließlich sind es die Menschen, die es ausmachen. Ich werde auf jeden Fall zurückkommen und versuchen, unsere Traditionen mit dem zu ergänzen, was ich an der Universität lerne.“ Dann lacht er plötzlich wie sein Vater und fügt trotzig hinzu: „Das Paradies wird weiter leben.“

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