Tierpräparator in Chemnitz

Wiederauferstehung einer Eule

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Nur weil Tierpräparator Holger Rathaj das Leben aus innerster Perspektive kennt, kann er Tierleichen lebendig aussehen lassen. Ein Besuch im Chemnitzer Museum für Naturkunde.

Bedrohlich wirkt er eigentlich nicht, der Bär. Er ist nur sehr, sehr groß. 2,87 Meter, um genau zu sein, so, wie er sich auf den Hinterbeinen aufrichtet und in das Vormittagslicht schaut, das den überdachten Innenhof des hellen Neubaus durchdringt. Vor dem Exponat steht, mehr als einen Meter kürzer, in Jeans und beigefarbenem T-Shirt, Holger Rathaj, Tierpräparator im Chemnitzer Museum für Naturkunde.

Er ist derjenige, der dem Bären seine letzte Gestalt verliehen hat. Der riesige Grizzly, dessen Maße selbst erfahrene Ranger und Jäger aus Nordamerika verblüfften, ist das größte Tier, das Rathaj jemals „zusammengebaut“ hat, wie das im Jargon seines Faches heißt.

„Die Präparate sind zwar Nachbildungen, aber den Leuten kommt es darauf an, zu wissen, dass alle mal echte Tiere waren“, sagt der 43-jährige. Trotzdem imitiert er nicht einfach nur die Echtheit des Lebendigen, sondern drückt dem Abbild einen eigenen Stempel auf. „Es gibt eine individuelle Handschrift jedes Präparators. Jeder kann sich ja irgendwie ausdrücken, durch Malerei, Musik oder Hula-Hoop-Reifen-Sprünge. Und ein Präparator eben durch sein Präparat“, erklärt Rathaj.

Marx und der Bär

Während der Museumsangestellte seine Tätigkeit beschreibt, drängt sich mir plötzlich der Gedanke an Karl Marx auf – vielleicht ausgerechnet an Marx, weil nicht weit vom Museum entfernt der auf sieben Meter vergrößerte Kopf des ehemaligen Namensgebers der sächsischen Stadt steht. Bei der Bronze-Plastik, die nach Entwürfen des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel gefertigt und 1971 aufgestellt wurde, soll es sich immerhin um die größte Porträtbüste der Welt handeln. Wie der Bär ist also auch Marx steif und leblos der Nachwelt erhalten. Zu Lebzeiten, als besonders rebellischer junger Mann, hatte Marx aber noch gefordert, die Philosophen sollten die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern.

Für Tierpräparatoren gilt genau das Gegenteil: Sie wollen unbedingt die Natur interpretieren. Selbst wenn es um größtmögliche Authentizität geht, wie Holger Rathaj betont: „Meinen Präparaten wird nachgesagt, dass sie die Tiere sehr sanft darstellen. So, wie sie auch in der Natur aussehen und sich verhalten, wenn sie nicht vom Menschen bedroht werden.“ Der Stil gefiel offensichtlich auch den Juroren der Tierpräparatoren-WM 2008 in Salzburg. Mit einem Graupapagei landete der Präparator immerhin auf Platz drei in der entsprechenden Kategorie.

Der Kinderschreck

Wie solche preisgekrönten Arbeiten zustande kommen, das zeigt der dreifache Vater mit dem jugendlich wirkenden Gesicht und dem wuscheligen dunkelbraunem Haar an diesem Morgen einer sechsten Mittelschulklasse. Sein weiß gekachelter Arbeitsraum im Hintertrakt des Museums ist bereits erfüllt von den Stimmen der Kinder, die sich um einen langen Tisch aus blauer Keramik drängen. Mitten zwischen den Schülern hat sich der Präparator niedergelassen – vor sich eine leblose Waldohreule, die zusammen mit weiteren 1.000 in Plastiktüten verpackten Fauna-Kollegen seit 2004 in Rathajs Kühlkammer ihrer Wiederauferstehung harrte.

Die Augen des Museumsangestellten blitzen. Es macht ihm sichtlich Spaß vor Zuschauern zu arbeiten. Mit dem Skalpell setzt er zum ersten Schnitt in die Brustmuskulatur des bräunlich-weiß gefiederten Vogels an. „So, jetzt alle mal die Luft anhalten“, befiehlt er, „aber nicht wegen des Geruchs, sondern damit ich mich richtig beim Schneiden konzentrieren kann. Und wenn es anfängt zu bluten, kommt das nicht von der Eule, sondern weil ich mir in den Finger geschnitten habe.“

Als der wächsern rote Hautsack, der die Eingeweide des Vogels umschließt, zum Vorschein kommt, dreht sich nur ein Mädchen kurz weg und intoniert ein inbrünstiges „Igitt“. Doch die meisten der Schüler betrachten interessiert das Innenleben der Eule, auf das Rathaj sofort mit Gips angesetztes weißes Kartoffelmehl schüttet, weil es die Feuchtigkeit der Innereien aufsaugt.

„Das gibt’s heute zu Mittag“

Um den Kindern zu zeigen, dass bei seiner Tätigkeit weder Blut fließt noch Eingeweide spritzen, setzt der Präparator derben Humor ein. „So kann der Körper gleich paniert in die Pfanne – das gibt’s heute zu Mittag“, verkündet er, trennt den vom Kartoffelmehl weiß gefärbten inneren Hautsack samt Wirbelsäule aus der Eule heraus und legt ihn auf Zeitungspapier.

Für die Schüler reicht der Eindruck dieser ersten groben Präparations-Schritte. Sie sind vorher bereits durch die Dauerausstellung geführt worden, die vor allem den „versteinerten Wald“ zeigt. Die geologische Formation, die in Chemnitz vor 290 Millionen Jahren nach einem Vulkanausbruch entstand, bildet das Kernstück der hauseigenen Marketing-Strategie. Doch daneben leistet sich die Naturkunde-Einrichtung trotz chronisch klammer Kassen auch weiterhin einen biologischen Präparator – seit nunmehr 23 Jahren arbeitet Holger Rathaj bereits hier. „Ich habe schon eine Inventarnummer. Wenn ich sterbe, werde ich hier mit großer Nadel an einen Kasten gespießt“, scherzt er, kurz bevor die Sechstklässler gehen. „Wie die Schmetterlinge“, ruft ein Junge noch.

Ohne Publikum hält Rathaj danach im Waschraum, der von seiner Werkstatt abgeht, den blanken Vogelschädel unter Wasser. Dass er der Waldohreule mit einer Schere die Augen aussticht und danach mit einer Pinzette durch das Hinterhauptsloch, an dem die Wirbelsäule befestigt war, das Gehirn, eine rötliche Masse in einer kleinen Hauttasche, aus dem Schädel holt – dies wirkt auf einmal nicht brutal und eklig, sondern irgendwie organisch. „Man identifiziert sich mit dem Tier, weil man weiß, dass dies ein echtes Lebewesen ist. Und das ist der große Vorteil von Berufen wie Präparatoren oder Pathologen: sie wissen so auch um den Aufbau und die Funktionen ihres eigenen Körpers“, erklärt Rathaj.

Tot aber lebensecht

An ein Lebewesen erinnert das Präparat nicht gerade, nachdem es in Spülmittel eingeweicht, anschließend geschleudert und eine geschlagene Stunde trocken gefönt worden ist. „Es sind die Augen, die das Leben bringen“, weiß Rathaj. In die mit Modelliermasse ausgestrichenen Augenhöhlen setzt er zwei speziell angefertigte Glasaugen ein, stülpt vorsichtig den Schädel um, so dass ihm wieder das Kopf-Federkleid aufliegt und ihn am Ende tatsächlich eine Eule anschaut.

Nach dem Schleudern hatte das Tier viel eher einem leicht gebogenen Brett geähnelt. Ein magischer Moment – und dann wieder doch nicht, denn das Verfolgen der Arbeit des Präparators entmystifiziert die Wiederbelebung der Toten. Und hier funkt mir schon wieder Karl Marx dazwischen, nur jetzt der ältere, der Autor des weltberühmten „Kapitals“. Marx sagte, dass lebendige Arbeit sich in totes Kapital verwandle. Aber Rathaj arbeitet früher Lebendiges in dauerhaft Totes um, dem er dazu noch die täuschend echte Illusion der Lebendigkeit verleiht.

Das kann der Tierpräparator nur, weil er in vielen Berufsjahren genaueste anatomische Kenntnisse gesammelt hat. Während seiner Ausbildung Anfang der 1980er Jahre im Phyletischen Museum Jena, lernte Rathaj lediglich die Technik des Präparierens, nicht aber, wie zum Beispiel eine Eule zu schauen hat, nämlich immer starr geradeaus. Oder dass sie, wenn sie ruhig dasitzt, ihre Krallen nah nebeneinander setzt.

Um die Gelenke in die gewünschte Haltung zu bewegen, versieht Rathaj den Vogel mit Hals-, Flügel- und Beindrähten, die er in einem Imitat des Eingeweidesackes aus einem speziellen Schaum verankert. Dann näht er noch schnell die Außenhaut mit einem groben Hexenschnitt wieder zusammen. „Und nun kommt die Sisyphosarbeit“, kündigt der gebürtige Chemnitzer – oder Karl-Marx-Städter – an, „das Federnsortieren.“

Der letzte Ast

Mit einer Pinzette zieht er vorsichtig an beinahe jeder Feder der obersten Schicht, spürt nach, „wo sie hin will“, wo sie also eigentlich liegen müsste. So entstehen bräunlich-weiße Musterungen, die zuvor bei dem ganzen Waschen, Schleudern und Fönen durcheinander geraten sind. Die Gefiederflecken erinnern an einen knorrigen alten Baum, in dem die Waldohreule somit perfekt getarnt ist.

Sein letzter Ast wird dem Vogel erst in der nächsten Ausstellung unter die Krallen kommen. Noch sitzt er auf einem Holzklotz im Schraubstock – nach dem filigranen Federnlegen endlich „ganz relaxed aufgebutzelt“, wie Holger Rathaj es haben wollte. Am Ende des Arbeitstages wird klar: Immer etwas starr geradeaus schaut hier von dem langen blauen Tisch eine Eule, die zugleich keine mehr ist. Marx hätte wohl gesagt, dass der tote Vogel durch die lebendige Arbeit des Präparatoren in Bildungskapital für zukünftige Museumsbesucher umgewandelt wurde.

Nur zehn Minuten Fußweg von Rathajs Werkstatt entfernt, starrt derweil der „Nischel“, wie die Chemnitzer ihren monumentalen Marx-Kopf nennen, düster entschlossen in die tiefer stehende Sonne. Ebenso entschlossen schaut auch der tote Museums-Bär. Und dann ist da natürlich noch der ausgestopfte Lenin, der seit über 90 Jahren leblos aufgebahrt auf dem Roten Platz in Moskau liegt. Der Sozialismus, so scheint mir, war für die Präparation der Toten eine wahre Blütezeit.

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