Die Bayern lieben ihre Traditionen und pflegen sie mit Hingabe, auch wenn das zuweilen Leidensbereitschaft erfordert – etwa bei der 55. Deutschen Meisterschaft im Fingerhakeln. Hier zählt nur eine Frage: Wer ist der Stärkste?
Warm ist es im Festzelt am Wittelsbacherpark. Der Geruch von Leberkas und Brathendl liegt in der Luft, dazu Tabak, Bier und Blasmusik. Langsam füllt sich der Raum unter dem großen weißen Zeltdach. Menschen in Tracht nehmen an Biertischen unter Kunsttannen-Girlanden Platz. Wohin ich auch schaue: Dirndl, Lederhosen, Wadlwärmer, Trachtenschmuck. Fesche Madln und gestandene Mannsbilder, davon viele mit Bart, Bauch und Bizeps.
Die Bühne ist bereitet, die Spiele können beginnen. An einem Sonntagvormittag im August beginnt in Garmisch-Partenkirchen ein Kraftwettkampf, der bayrischer nicht sein könnte. Fingerhakeln. An einem festgeschraubten Tisch sitzen sich die zwei „Hakler“, etwa gleich schwere Kontrahenten, auf Hockern gegenüber und versuchen sich gegenseitig hinüber zu ziehen. Dazu stecken sie ihre austrainierten und mit Magnesiapulver bestäubten Mittelfinger durch einen Lederring von etwa zehn Zentimetern Durchmesser.
„Ohne Leidensfähigkeit geht in diesem Sport nichts.“
Als ich die Teilnehmer bei ihren Vorbereitungen beobachte, wird mir klar: Das hier ist ernst, keine Touristengaudi und kein Kirmesboxen. Hier geht es wirklich um Tradition, Männlichkeit, und um Sieg oder Niederlage. Hinter der Bühne: Tracht und Tunnelblick, überall konzentrierte Gesichter. Finger werden geknetet und aufgewärmt, gepulvert und geföhnt. Für Bier und Brathendl ist jetzt noch keine Zeit, erst wird gekämpft.
Ohne Leidensfähigkeit geht in diesem Sport nichts, denn das Zerren am Lederring verursacht Dehnungsschmerzen an Finger, Hand und Arm. Oft reißt die punktuelle Belastung auch die Haut am Hakelfinger auf. Immer wieder sehe ich Teilnehmer mit blutenden Fingern von der Bühne kommen und Richtung Sanitäter gehen.
Fingerhakler, erfahre ich von Mitorganisator Hubert, trainieren gezielt für ihren Sport. Mit Gewichten, Expandern und Klimmzügen am Hakelfinger. Wichtig seien vor allem Schnellkraft und Technik, erklärt er mir weiter. Man muss den Gegner überraschen um ihn „über den Tisch zu ziehen“.
Tatsächlich geht die Redensart auf den skurrilen alpenländischen Kraftsport zurück, der seinen Ursprung im 17. Jahrhundert hat. Mit Fingerhakeln wurde früher Streit friedlich ausgetragen, heißt es. Das harte Leben in den Alpentälern Bayerns und Österreichs prägte rauhe Sitten und der Wettstreit half, Raufereien oder Schlimmeres zu vermeiden. Heute ist das Hakeln dort ein organisierter Sport mit Vereinen, genormten Wettkampfgeräten, festen Regeln, Gewichts- und Altersklassen, Schiedsrichtern und eben Meisterschaften.
Wie in anderen professionellen Sportarten ist alles genormt, von den 8 Milimeter starken Lederriemen über die 109 Zentimeter langen Tische bis zu den 48 Zentimetern hohen Hockern. Die Tischplatte ist an den Kanten gepolstert, um Verletzungen zu vermeiden.
Fertig, ziagt’s!
Der Wettkampf an sich ist kurz und intensiv: Die Gegner setzen sich an den Tisch, haken ihre Finger ein, bauen Körperspannung auf, der Schiedsrichter gibt sein Kommando „Beide Hakler fertig, ziagt’s!“ und dann wird gezerrt und gezogen, was Muskeln und Bänder hergeben. Hochrote Köpfe, zusammengebissene Zähne, entschlossene Blicke oder zugekniffene Augen, manchmal Stöhnen und Prusten verraten die Anstrengung der Kontrahenten. Nach fünf bis 45 Sekunden geht einer über den Tisch, Hocker kippen, der andere hat gewonnen. Kurze Gratulation des Verlierers, Hocker wieder aufstellen, neues Paar, nächster Kampf.
Rund 150 Männer und Jungen kämpfen in den neun verschiedenen Gewichts- und Altersklassen um Punkte – für sich selbst und ihre Vereine. Als Königsklasse gilt, wie in vielen Kraftsportarten, das Schwergewicht. Hier dominiert seit Jahren der Ohlstädter Josef Utzschneider, den die Sueddeutsche Zeitung einmal den „Usain Bolt des Fingerhakelns“ nannte. Utzschneider ist amtierender bayrischer, deutscher und alpenländischer Meister.
Der Einundreißigjährige mit den breiten Schultern und dem glattrasierten freundlichen Gesicht dominiert seit mehreren Jahren die Wettkämpfe, er gilt auch heute als Favorit. Doch sein Finalgegner Michael Kölb sieht gut dreißig Kilo schwerer aus und wirkt mit seinem dichten Vollbart eher bärenhaft – jemand, der jedes Kräftemessen spielend gewinnen dürfte. Wackelt die Titelverteidigung?
„Brüllend und mit gestreckten Fäusten liegt er in den Armen seines Auffängers.“
Das Finale im Mittelgewicht ist kurz und emotional. Anton Bader – Vollbart, Lederhose, grünes Hemd – reißt knapp acht Sekunden am Lederring, das Gesicht eine Grimasse, dann ist da nur noch die Emotion. Brüllend und mit gestreckten Fäusten liegt er in den Armen seines Auffängers. Zehn von zehn Punkten auf der Jubelskala, für mich das Bild des Tages.
Der Nachmittag neigt sich. Ein Sommergewitter ist prasselnd und donnernd über dem Festzelt niedergegangen. Es ist kühler geworden, Zeit für das Finale in der Königsklasse. Josef Utzschneider und Michael Kölb nehmen ihre Plätze ein, greifen durch den Ring und stemmen die Schienbeine vor die Tischkanten. Ich entscheide mich zunächst für ein Bild von den anfeuernden Zuschauern. Ehe ich das im Kasten habe, steht der Sieger jubelnd hinter mir – Usain Bolt hat wieder zugeschlagen.
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