Zwischen China und Kasachstan liegt das Land der Kirgisen. Neben Pferden und Walnüssen soll es hier auch Terroristen geben. WELTSEHER-Autor Markus Huth hat Kirgistan durchquert – und Angst hatte er eigentlich nur ein Mal.
Während unser Kleinbus über holprige Bergstraßen rast, denke ich: Verdammt! Warum habe ich ihm das bloß erzählt? Nur einige hundert Kilometer von Afghanistan entfernt, in einem kirgisischen Sammeltaxi voller Fremder, ist es vielleicht keine gute Idee, Fragen wie „Hey Bruder, wo wollt ihr hin? Wartet man dort auf euch? Wo schlaft ihr?“ wahrheitsgemäß zu beantworten. Wir sind zu zweit. Tobi und ich. Keine Touristen wollen wir sein, sondern Reisende. Keinen Pauschalurlaub machen, sondern Kirgistan – einen der ärmsten Nachfolgestaaten der Sowjetunion – auf eigene Faust entdecken.
Drei Wochen quer durchs Land: Von der Hauptstadt Bischkek im Tal des Flusses Tschüi auf die Seidenstraße nach Osch, zum heiligen Berg, wo König Salomo genächtigt haben soll. Weiter auf das „Dach Zentralasiens“, ins Hochgebirge Tian Shan, auf Pferden zu schwer zugänglichen Gebirgsseen, in Jurten unter den Sternen schlafen. Und an die Ufer des Yssykköl, des zweitgrößten Bergsees der Welt. Tobi, ein gelassener Österreicher, war vor Jahren mein Mitbewohner im Studentenwohnheim in Moskau, und wir wussten: In Kirgistan ist Russisch zweite Amtssprache. Aber abgesehen von Klischees übers Nomadenleben hatten wir kaum eine Vorstellung davon, was uns erwartet.
Das Auswärtige Amt schreibt auf seiner Website: Kirgistan, gelegen zwischen China, Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan, knapp 200 000 Quadratkilometer, 5,5 Millionen Einwohner, davon 80 Prozent sunnitische Muslime. Und die Diplomaten warnen. Vor gewaltsamen Auseinandersetzungen „im Zusammenhang mit innenpolitischen Entwicklungen“. Seit Kirgistans Unabhängigkeit 1991 hat es immer wieder gewaltsame Unruhen mit Todesopfern gegeben, zuletzt 2010, wonach der damalige Präsident Bakijew aus dem Land gejagt wurde.
Durch die Berge im Gangnam Style
Mit dem Sammeltaxi, das uns von Bischkek nach Dschalalabad bringt, fahren wir an den verbrannten Ruinen seiner einst prächtigen Villa vorbei. Die Diplomaten warnen auch vor islamistischen Terroristen, die im Süden des Landes operieren – in der Gegend, in die wir gerade unterwegs sind. Das Radio schreit „Gangnam Style“, während der Kleinbus durch die fast menschenleere Berglandschaft saust. Selbst an so entlegenen Orten gibt es vor dem Song wohl kein Entkommen. Derweil wechselt draußen Hitze im Tal mit Schnee auf Bergpässen. Jurten ziehen vorbei, Reiter treiben Schafe vor sich her.
Der neugierige Typ vorne beim Fahrer fällt mir erst gar nicht auf. Eingequetscht zwischen Tobi und einem Landarbeiter auf der Rückbank, sehe ich nur seinen Hinterkopf mit den dunklen kurzen Haaren. In den acht Stunden unserer Fahrt stellt er immer wieder Fragen: Wo wir her kämen, wo wir hin wollten. Als er kurz vor Dschalalabad eine Nachricht in sein Handy tippt und mir der Rückspiegel sein jetzt vielsagend wirkendes Lächeln zeigt, fallen mir die Warnungen des Auswärtigen Amtes vor Terroristen wieder ein. Der Fahrer hält mitten in der Stadt vor einem ehemaligen sowjetischen Hotel. Es heißt „Mül Mül“ und sieht auch so aus. Der Putz bröckelt wohl schon seit Jahrzehnten vor sich hin. Obwohl er nicht hier wohnt, steigt der Neugierige mit uns aus. Erst jetzt, und vor allem weil er sich ungefragt meinen Rucksack aus dem Kofferraum schnappt und mit ihm davon marschiert, sehe ich ihn mir genauer an: Seine Haut ist braun wie Leder und umschließt dunkle Augen. Ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig. In dem gestreiften Pulli wirkt er wie eine Wespe. Da ist er mit meinem Rucksack auch schon ins Hotel verschwunden.
Reisegruppe wider Willen
„Ein Zimmer für meine Freunde aus Deutschland, aber ein gutes!“, verlangt er von der alten Frau an der Rezeption. Dann stellt die Wespe sich vor: Ulanbek, eigentlich auf Dienstreise, um für seine Firma den Baufortschritt an Einfamilienhäusern zu inspizieren. Aber an irgendeinem Punkt unserer Fahrt hat er wohl beschlossen, unser persönlicher Reiseassistent zu werden. „Ruht euch eine Stunde aus“, ordnet er an, nachdem er das spartanisch eingerichtete Hotelzimmer für in Ordnung befindet. „Duscht, dann zeige ich euch die Stadt.“ Allahu akbar, Gott ist groß, ruft der Muezzin von der nahe gelegenen Moschee. Die Sonne versinkt hinter den Bergen, Grillen zirpen, wir spazieren mit unserem neuen Freund über den Hauptplatz. In dessen Mitte spuckt ein kreisrunder Brunnen hohe Fontänen, sie leuchten mal grün, mal blau, dann rot. Jetzt sind wir neugierig und fragen Ulan aus.
Seine Frau, erzählt er, ist Russin und für die Hochzeit mit ihm vom Christentum zum Islam konvertiert. Mit ihrem kleinen Sohn leben sie in St. Petersburg, und er arbeitet als leitender Angestellter für die Baufirma seines Schwiegervaters. Das ist ungewöhnlich. Zwar verdienen Hunderttausende Kirgisen ihr Geld im Land der einstigen Beherrscher. Doch vor allem als einfache Arbeiter oder Putzkräfte. Viele Russen blicken auf sie herab. „Am Anfang waren ihre Eltern gegen unsere Beziehung“, sagt Ulan. Inzwischen verstehe er sich gut mit ihnen. Allahu akbar, stimmt der Muezzin ein weiteres Mal an, und ein grauer Van hält quietschend neben uns.
Die Tür springt auf, vom Lenkrad reicht ein schmächtiger junger Mann uns die Hand. Ulans Cousin. An ihn ging die SMS aus dem Bus. Sein Vetter habe ein Abendprogramm vorbereitet, sagt er. „Steigt ein!“ Nach kurzer Fahrt halten wir vor einer Art Disko-Biergarten. Junge Menschen tanzen zu orientalischer Popmusik im Kreis, neugierige Augenpaare folgen den einzigen beiden Nicht-Asiaten hier. Wir setzen uns. Die Musik verstummt. Ein Fiepen, ein Krächzen. Dann spricht eine Männerstimme auf Russisch ins Mikrofon: „Wir begrüßen unsere Ehrengäste aus Deutschland und Österreich. Herzlich Willkommen, Markus und Tobias!“ Jemand ganz weit hinten klatscht emphatisch. Der Mann fährt fort: „Das nächste Lied widmet euch euer Ulanilein!“ Michael Jackson singt „You are not alone“. Wir bestellen kirgisisches Bier.
Plötzlich allein im Nusswald
Der nächste Morgen. Lautes Klopfen an der Zimmertür reißt mich aus dem Schlaf. Am Abend im Biergarten hatte ich erzählt, wir wollten nach Arslanbob fahren, wo der größte natürliche Walnussbaumwald der Erde wächst. Nun hat Ulan schon alles ganz genau geplant. „Frühstückt“, befiehlt er. „Dann gehen wir zum Taxibahnhof.“ Ich selbst habe noch nie einen fremden Touristen von Hamburg nach Berlin begleitet, nur um ihm die Stadt zu zeigen. Ulan hingegen sitzt wie selbstverständlich auf der dreistündigen Fahrt von Dschalalabad nach Arslanbob mit uns im Taxi und blickt zufrieden aus dem Fenster.
Zuerst hatte es noch so ausgesehen, als wollte er für uns lediglich einen guten Preis mit dem Fahrer aushandeln. Doch nein, er wollte unbedingt mit. „Aber du hast doch in Dschalalabad beruflich zu tun. Wir möchten dir keine Umstände machen. Du brauchst dir keine Sorgen um uns zu machen, wir kommen klar.“ Die Einwände beleidigen ihn. Einerseits froh, dass wir keinem Taliban-Späher begegnet sind, ist uns auch klar: Auf eigene Faust werden wir Kirgistan so nicht entdecken. Ich überlege, wie man Ulan wohl höflich loswerden könnte, und komme mir undankbar vor.
Ankunft in Arslanbob in 1500 Metern Höhe. Der Legende nach brachte Alexander der Große die Walnuss von diesem weltvergessenen Winkel nach Europa. Über viele tausend Hektar erstreckt sich der Wald ins Umland. Wie Tentakel winden sich vom Marktplatz aus Trampelpfade die Berge hinauf, bevölkert von Hühnern und Eseln. Männer mit langen grauen Bärten bleiben stehen, um uns zum Gruß die Hand zu reichen. „Salem Aleikum“, rufen spielende Kinder und wollen fotografiert werden. Nach einer Stunde Marsch beginnt der Wald, und mit ihm kommt die Kühle. Einem Ozean gleich rauschen die Blätter der alten Bäume im Wind. Am Wegesrand liegen heruntergefallene, unreife Nüsse. Umgerechnet 70 Cent bekommen die Familien aus Arslanbob auf dem Dorfmarkt für ein Kilogramm davon, erzählt der Mann, der uns den Wald zeigt. Denn Ulan ist nicht mehr bei uns.
Ein letztes Mal
Es war nicht leicht gewesen, ihn zu überzeugen, dass er beruhigt allein zurückfahren könne. Erst nachdem er die Unterkunft bei einer Gastfamilie inspiziert und unsere Handynummern gespeichert hatte, stieg er ins Taxi. Drei Tage später sehen wir ihn wieder – ein letztes Mal, für zehn Minuten. „Wir fahren gleich weiter nach Osch“, sagen wir Ulan, der extra zum Busbahnhof von Dschalalabad geeilt ist. Er ist nur ein bisschen beleidigt.
Seine Stimme hören wir in den nächsten zwei Wochen noch regelmäßig. Er ruft an und will wissen, was wir so treiben. Wir erzählen, wie wir ins Hochland ritten und in Jurten, Zelten von Nomaden, schliefen. „Das hättet ihr auch bei meinen Verwandten machen können!“ Von der störrischen Kuh auf dem größten Viehmarkt Zentralasiens in Karakol. „Ein Freund von mir hätte euch herumgeführt!“ Und von unserem Strandurlaub am viel zu kalten Bergsee Yssykköl. „Ich kenne da ein gutes Hotel!“ Kurz vor unserem Abflug aus Bischkek ein letztes Telefonat: „Gib mir deine E-Mail-Adresse“, sagt Ulan, „vielleicht komme ich mal nach Deutschland.“ Zurück in Hamburg vergehen die Wochen. Warum hat er noch nicht geschrieben, frage ich mich, bereit, ihm Berlin, Köln oder München zu zeigen. Und wie zum Trost spielt das Radio: „You are not alone“.
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Danke für diesen tollen Beitrag. Großartige Bilder! Ich war diesen August selbst für drei Wochen in der Mongolei, inkl. Reittour. Die Ähnlichkeiten sind verblüffend, besonders die Reperaturen am Straßenrand. http://wp.me/p4X51q-1HY
Die Mongolei ist sicher auch fantastisch.
ich komme wieder !
Mit diesen tollen Bildern kommt Fernweh auf! 🙂