Das stinkende Herz von Mumbai

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Dharavi ist Mumbais größtes Slumgebiet. Auf etwa zwei Quadratkilometern hausen und arbeiten bis zu eine Million Menschen. Hier leben viele von dem, was andere wegschmeißen. Touristen verirren sich nur sehr selten an diesen Ort.

Wie weißer Nebel steigt Wasserdampf aus den Wellblechhütten auf und vermischt sich mit der kühlen Morgenluft Mumbais. Nur langsam kehrt Leben in den Slum ein. Müde erheben sich die Menschen in Dharavi von ihren Nachtlagern und schlurfen mit hängenden Schultern vor ihre Hütten, Zeit für die morgendliche Toilette. Allein die Tee-Verkäufer wuseln bereits wie Ameisen durch die engen Gassen und preisen ihre Ware an.

Erst vor wenigen Minuten brachte mich der Metrozug aus dem touristischen Süden Mumbais in das zentralgelegene Slumgebiet Dharavi. Meine Anwesenheit erntet zahllose ungläubige Blicke. In den Gesichtern der Menschen steht die Frage, was ein Bleichgesicht zu dieser Uhrzeit an diesem Ort zu suchen hat. Hier, wo sich normalerweise keine Touristen hin verirren. Hier, wo die Armut regiert und die Menschen von dem leben, was andere weggeworfen haben.

Dharavi ist Mumbais größtes zusammenhängendes Slumgebiet. Auf etwa zwei Quadratkilometern leben bis zu eine Million Menschen. Begrenzt von einem Fluss und zwei Eisenbahnlinien. Liebevoll wird es auch „Heart of Mumbai“ genannt. Es ist ein stinkendes, dreckiges Herz. Der wichtigste Wirtschaftsfaktor ist neben der Textil- und Tonwarenherstellung das Recycling von Reststoffen.

Mitten im Herzen von Mumbei liegt das Slumviertel Dharavi. © Christian Faesecke
Die Teeverkäufer versorgen die Menschen am Morgen mit Chaitee. © Christian Faesecke
Am Morgen lässt sich ein Mann am Straßenrand rasieren. © Christian Faesecke
Mit Stoffresten werden die Schmelztiegel befeuert. © Christian Faesecke
Auch aus den alten Kabeln werden die Kupferdrähte entfernt und weiter verwendet. © Christian Faesecke
Überall in Mumbai werden PET-Flaschen eingesammelt und nach Dharavi gebracht. © Christian Faesecke
An den großen Abwasserleitungen haben sich Bewohner des Slums angesiedelt. © Christian Faesecke
Das aus den PET-Flaschen gewonnene Plastik wird zur Weiterverarbeitung in Klumpen gegossen. © Christian Faesecke
Hinter einer schmalen Wellblechwand befindet sich ein großer Schmelztiegel. Zwei junge Männer halten abwechselnd das lodernde Feuer in Gang. © Christian Faesecke
Im Schmelztiegel werden Aluminiumspäne eingekocht. © Christian Faesecke

Arbeit unter stinkendem Rauch

Ich streife durch die engen Gassen und muss ständig aufpassen. Unentwegt donnern kleine Lastwagen hupend durch den Slum knapp an mir vorbei. Nur ein beherzter Sprung in einen Hauseingang rettet mich vor diesen angerosteten Ungetümen. Sie beliefern die vielen kleinen Werkstätten im Nord-Westen Dharavis mit Plastikabfällen, die in den anderen Stadtteilen eingesammelt wurden.

Unzählige kleine Ein-Zimmer-Werkstätten dominieren diesen Teil der Stadt. Hier werden die Plastikabfälle sortiert, unter lautem Maschinenlärm geschrotet und anschließend unter stinkendem Rauch, der in Augen und Mund brennt wieder zu handlichen Formen verschmolzen.

Zwei Männer am Straßenrand schauen mir schmunzelnd bei meinen Ausweichmanövern zu. Sie sitzen auf einem bunten Haufen von Kabel. In mühseliger Handarbeit trennen die beiden die Kabel in Metall und Plastik. Dafür klemmen sie die Schnüre zwischen ihre Zehen, schneiden mit einem alten Messer die Kabel auf und lösen die Kunststoffhülle vom glänzenden Inhalt. Das Metall wird später eingesammelt und ebenfalls eingeschmolzen.

Einige Gassen weiter: Große Säcke, mit Aluminiumspänen gefüllt, ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Hinter einer schmalen Wellblechwand befindet sich eine Feuerstelle, in deren Mitte ein großer Schmelztiegel steht. Zwei Arbeiter halten abwechselnd das lodernde Feuer in Gang, sorgen für eine ausreichende Luftzufuhr und führen dem Tiegel unter eindrucksvollem Auflodern der Flammen immer wieder Aluminiumspäne zu. Der Rauch kann nur begrenzt durch die Schlitze im Dach entweichen. Es ist heiß und stickig. „Was machst du hier?“, fragt einer. Die beiden Männer sind überrascht, mich in ihrer Werkstatt anzutreffen.

Leuchtende Suppe im Schmelztiegel

Aber schnell verlieren sie wieder das Interesse an mir und wenden sich ab. Die leuchtende Suppe in ihrem Schmelztiegel scheint fertig zu sein. Vorsichtig ziehen sie den Behälter mit langen Stangen aus der Glut und gießen den Inhalt in bereitstehende Brikettformen. Die Hitze wird unerträglich, die Dämpfe benebeln meine Sinne und mir wird schwindlig. Angeschlagen trete ich den Rückzug an und rette mich nach draußen in die Mittagshitze. Sie ist erfrischend.

Draußen bietet mir ein kleiner Junge einen süßen Chai-Tee aus seiner Kanne an. Im Eingang zur Schmelze sitzend schaue ich mich um und trinke vorsichtig den Tee, der den ätzenden Geschmack des Qualms Schluck für Schluck verdrängt. Diese Gelegenheit lassen sich die anderen Arbeiter in der Gasse nicht nehmen. Sie kommen zu mir. Umringen mich. Kurz nach meiner Flucht aus der Schmelze bin ich umgeben von neugierigen Blicken und interessierten Gesichtern. Die Leben hinter den Gesichtern erzählen sehr oft die gleiche Geschichte.

Einer berichtet mir, er habe Frau und Kinder daheim im indischen Rajasthan gelassen. Nur an wenigen Feiertagen im Jahr schaffe er es, sie zu besuchen. Arbeit gebe es dort nicht. Deshalb ist hier, in Dharavi, für viele Arbeiter der erste Anlaufpunkt in Mumbai. Nun schläft er wie so viele andere auf Pappunterlagen direkt neben dem Arbeitsplatz.

Dunkelgraue Wolken steigen aus den Blechhütten auf und trüben das Blau des Himmels als ich wieder im Zug sitze – auf dem Weg zurück in die hübsche Altstadt von Mumbai. Die Feuer in Dharavi werden noch bis spät in die Nacht brennen. Und schon bald wird ein neuer Tag wieder Leben in den Slum bringen.

Warum unser Autor Christian Fraesecke Dharavi besuchte, erfährst du im

Autoren-Interview

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  1. Hätte ich gerne mehr von gelesen!

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