Tschiatura in Georgien

Ein Wurm oder keiner

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Tschiatura ist eine kleine Bergarbeiterstadt in Georgien. Zu sowjetischen Zeiten bauten Tausende hier Manganerz ab. Doch mittlerweile sind die Minen erschöpft und die meisten Menschen sind fort. Geblieben sind abenteuerliche Seilbahnkonstruktionen, die über der Stadt thronen.

Der kleine Georgi hüpft wie ein Flummi hin und her. Drüben am Himmel drohen schwere Wolken. Ein Gewitter zieht auf, die ersten Windboen errreichen unser bescheidenes Gefährt – es wackelt, ich fühle mich wohl und unwohl gleichzeitig. Wir befinden uns in einer Seilbahngondel, etwa 60 Meter über der Erde schwebend, etwa 60 Jahre hat das Metallkonstrukt auf den Streben und technisch sowie optisch ist es seit Jahrzehnten nicht überholt worden. Unter uns liegt die georgische Stadt Tschiatura, 3 Minibusstunden nordwestlich der Hauptstadt Tiflis entfernt.

Zu sowjetischen Zeiten war die Stadt da unter uns eine reiche Bergbaustadt für Manganerz und ein Zuhause für mehr als 30.000 Menschen. Heute sind die Berge so gut wie ausgeschöpft. Viele Menschen sind arbeitslos, beinahe die Hälfte von ihnen hat die Stadt verlassen.

Dodo, Mitte 40, Gondoliere, ist geblieben. Tag für Tag trägt sie eine farbenfröhliche Bluse und eine Weste mit grossen Taschen, die groß genug sind für ihr Portemonnaie. 20 Tetri pro Fahrt, das sind etwa 8 Cent. Sie kennt jeden, hält ihre Fahrgäste auf neuem Stand, zum Beispiel darüber, dass der Fremde mit der grossen Kamera, das bin ich, aus „Hamburgi“ gereist kommt. Und dass er Chacha trinken war bei den Bergarbeitern, gerade eben, da oben auf dem Berg.

In Tschiatura bewegen sich die Bewohner viel mit den Seilbahnen fort.
Die Seilbahn-Konstruktionen sind schon seit vielen Jahren nicht mehr wirklich gewartet worden. Rost und bröckeliger Beton sind überall zu sehen.
Dodo ist eine Gondoliere. Sie kassiert den Fahrpreis von den Reisenden. Umgerechnet kostet eine Fahrt etwa acht Cent.
Aber nicht in allen Gondeln muss ein Fahrtgeld entrichtet werden.
Nachdem der Bergbau in Tschiatura zum Erliegen kam, verließen viele Menschen die Stadt. Die wenigen, die blieben, verbringen ihre Zeit zum Teil mit Domino spielen.
Die Seilbahn-Gondel-Station im Zentrum von Tschiatura.
Shalva und Maria vor dem Haus, in welchen sie wohnen. Vorher hatten Shalva und zwei Freunde mir bei strömenden Regen unter einem Baum eine Supra bereitet, eine nach traditionellen Regeln moderierte Mahlzeit.
Warteraum einer Gondelstation in (bzw. über) Tschiatura in Georgien. Im Hintergrund vom Bergbau gezeichnete Hügel.
Ein Junge in der Musikschule spielt unter Aufsicht ein Stück von Beethoven.

Ein Wurm oder keiner

Da oben auf dem Berg war ich Tariel begegnet. Seine Hände waren schwarz vom Schrauben an einer rätselhaften Maschine auf Rädern. Dazu traf ich zwei seiner Kollegen und zwei Polizisten, die mir in sicherem Abstand folgend das Fotografieren untersagt hatten. Werksspionage. Tariel hatte mir jenen Selbstgebrannten gereicht und eine Scheibe Brot sowie sein Armgelenk und wir hatten Brüderschaft getrunken auf die deutsch-georgische Freundschaft. Draussen vorm Eingang seiner Bergwerkstatt: Kabel mit Starkstrom 1,50m über der Erde, ein Schwein, ein Hund. Weiter hinten Domino spielende Männer unter Bäumen. „Angela Merkel“ hatten sie von weitem in meine Richtung gerufen – man wusste Bescheid, Dodo tat ihr Bestes.

Tschiatura bedeutet übersetzt „ein Wurm oder keiner“. Ausgedacht hat sich das Akaki Zereteli, Dichter und Politiker, als er einmal von oben auf die sich schlängelnden Strassen der Stadt blickte. Das ist lange her, heute denkt man auch an sorgfältig herumliegende Legosteine – es gibt viele Plattenbauten. In der Mitte der Stadt steht ein älteres Kulturzentrum, daneben Miniaturversionen städtischer Architektur auf einem Spielplatz.

Dafür, dass so viele Menschen die Stadt verlassen haben, gibt es erstaunlich viele Kinder. Am Sonntag im Kulturzentrum höre ich einige singen, stehe vorm Gebäude, gehe hinein. Eine schwere Tür öffnet sich leicht, hinter ihr ein riesiger dunkler Raum. Vollbesetzt mit Eltern, Großeltern, Kindern und Enkeln, vorn eine Bühne. Zuerst ein Chor, dann eine Tanzchoreographie, später ein Kind allein am Klavier, darüber hängen Luftballons. Die Kinder machen das alles nicht zum ersten Mal – das sieht man und das hört man.

Überall Gondeln, Seile und Masten

Einem der jungen Pianisten werde ich einen Tag später noch einmal in einer Kinder-Musikschule unten am Fluss begegnen – ein altes Haus, in welchem Bauarbeiter Zementsäcke umhertragen und Wände klangstark erneuern. Dazwischen Kinder an Klavieren und zwei Lehrerinnen, die sich musikalisch streng und gleichzeitig mütterlich sorgsam um ihre 10 Schülerinnen und den Schüler kümmern. Der Junge spielt Beethoven, ich mache ein Foto: „klick“ im Rhythmus, um sein Spiel nicht zu stören.

Wieder draussen, oben über der Erde: Überall Gondeln, Seile, Masten. Die Menschen in Tschiatura bewegen sich mit Seilbahnen fort. Manche sind gratis, in meiner steht Dodo, woanders eine Kollegin.

Die abenteuerliche Fahrt beginnt bereits beim Begehen der Haltestelle. In Stahlbeton gehaltene Stege, die nach Jahren städtischer Armut eher aus Stahlstreben als aus Beton bestehen, führen zum Ausgangspunkt der Reise. Vorbei an zum Teil herumliegenden Starkstromkabeln, welche, vorsichtig gesagt, eher halb-fachgerecht zusammenmontiert sind, sich verheddern, einen Salat ergeben, um dann doch irgendwo einen Stromkasten zu finden, welcher die Anlage mit Strom versorgt. Sofern dieser nicht gerade ausgefallen ist, was etwa einmal am Tag vorkommt. Danach besteigt man eine Blechgondel, die Farbe nach Jahrzehnten wechselnder Witterung kaum noch sichtbar, während häufig der Boden durch kleinere und grössere Löcher die Betrachtung auf die Stadt freigibt.

Trinksprüche zu selbstgebranntem Chacha

Metallene Masten halten das Stahlseil, an welchem die Gondel hängt, auf Höhe. Weil sie vor allem aus Rost bestehen, strahlen sie eine gewisse Ästhetik aus. Da während der Fahrt das Leben an ihnen hängt, auch gar schon eine Romantik. Die Luft ist frisch, weil oben in den Bergen häufig ein Wind weht. Das knarzende Geräusch des Metalls erinnert ein wenig an den Hamburger Hafen, dort, wo Stege und Schiffe durch Wellenschlag aneinanderreiben und – stossen. Vor Jahren gab es eine kleine Ungereimtheit, eine Gondel steckte fest, Arbeiter kamen aus Tiflis und befreiten die Eingeschlossenen.

Am Ende der Fahrt verlasse ich die Gondel. Der kleine Georgi rennt die Rampe hinauf, ich flüchte mich unter eine kleine Baumgruppe, geselle mich zu Hühnern, welche Gleiches taten. Das Gewitter hat uns erreicht, Regen prasselt. Nach wenigen Minuten kommen Bichiko, Maiko und Shalva zu mir. Sie hatten mich, den Fremden, schon von Weitem gesehen. Es gibt eine Supra, also, eine Mahlzeit, die hier unterm Baum ausnahmsweise klein ausfällt.

Eine Supra wird durch einen Tamada moderiert. Bichiko übernimmt diese Aufgabe, Trinksprüche, welche in Art und Reihenfolge einer traditionellen Regel folgen, werden gesprochen, es gibt Brot, Tomaten und, logisch, selbstgebrannten Chacha. Auch diesmal wird Dodo Bescheid wissen, woher auch immer – der Informationsfluss funktioniert. Wie so einiges in Tschiatura.

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  1. Ein Wurm oder keiner – SIEH DIE WELT http://t.co/QqfzwcGpfp via @siehdiewelt

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