Flucht vor dem IS im Irak

Nur nicht den Kopf verlieren

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Auf seinen Reisen durch den Nahen Osten und Zentralasien besuchte unser Autor Marcus Karl auch den Irak. Genau zu der Zeit, als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Juni 2014 dort ihre Großoffensive startete. Die Geschichte einer Flucht.

Da! Eine aufgewühlte Traube von Menschen vor einem Schaufenster. Bestimmt steht dort ein Fernsehgerät. Ich klettere auf einen Mülleimer, um über die Köpfe hinweg die Aufnahmen aus Mossul zu sehen. Brennende Busse und verkohlte Häuser, weinende Menschen, die zwischen Schutt und Asche sitzen. Erschütternde Bilder, die mich für einen Moment sprachlos machen. Schnell habe ich genug gesehen, springe zurück auf die Straße. Juri, der am Rand auf mich gewartet hat, blickt mich fragend an. Ich schüttle nur den Kopf: „Lass uns abhauen!“

Seit einigen Monaten reisen mein Freund Juri und ich durch die Länder des mittleren Ostens und Zentralasiens. Eine Mischung aus Neugier auf die Welt und Abenteuerlust treibt uns an. Die letzten Tage verbrachten wir in dem syrischen Flüchtlingslager „Kawergosk“ im kurdischen Teil des Iraks, nahe der Kurden-Hauptstadt Erbil. Unser nächstes Etappenziel sollte Mossul sein, bevor wir den Nordosten des Landes erkunden.

Doch am Morgen unseres Aufbruchs nimmt Khaled, der Besitzer unseres Hostels, uns zur Seite: „Bad news, boys! They started to fight again in Mossul. Please don‘t go there.“ Ich erkenne ernste Sorgen in seinem Gesicht, aber der Appell perlt an mir ab. Warnungen vor Gefechten, Aufruhr und Bombenanschlägen nehmen wir nicht mehr wirklich ernst. Immer wird irgendwo gekämpft, immer haben sich Leute in den Haaren. Dabei ernsthafte Gefahr und Übertreibung auseinanderzuhalten, ist nicht immer ganz einfach. Wir schaffen es einfach nicht mehr, zwischen Fakten und Gerede eine klare Grenze zu ziehen. Abgestumpft? Vermutlich sind wir das ein bisschen. Leichtsinnig kommen wir uns aber nicht vor.

Desinteresse mischt sich mit leichter Panik

Wir wollen nach Mossul oder zumindest hindurch, auf einen zeitraubenden Umweg haben wir nicht die geringste Lust. Ob dort wirklich gekämpft wird, darüber gibt es hier im Flüchtlingslager keine einheitliche Meinung. Einige winken müde ab. Nie im Leben wagten es die Kämpfer des Islamischen Staates (IS), die Kurden anzugreifen, hören wir. Die kurdischen Gebiete seien sicher, sagt man uns.

In dem syrischen Flüchtlingslager „Kawergosk“ im kurdischen Teil des Iraks hielt sich Marcus Karl auf bevor er in das knapp 20 Kilometer entfernte Mosul fahren wollte.
Zwischen Mosul und der türkischen Grenze machten Marcus und sein Freund Juri eine Pause in Dohuk. Dort war alles ruhig.
Beim gemeinsam Tee mit den älteren Kurden wurde deutlich, dass die Männer in Dohuk nicht vor den Kämpfern des Islamischen Staates weichen wollen.
Im Grenzgebiet zwischen dem Irak und der Türkei trafen Marcus und sein Freund auf hilfsbereite Menschen, die ihnen Limonade spendierten.

Nach etwas Zögern und weiteren eindringlichen Warnungen und Bitten unserer Freunde lenken wir ein. Wenige Stunden später holpern wir durch eine karge Steinwüstenlandschaft in einem alten Mercedes-Benz zurück nach Erbil. Statt ängstlich bin ich eher genervt und gereizt. Ich blicke zu meinem Reisegefährten. Juri, mit seinen Anfang zwanzig, hat noch nicht den Hauch von Sorgenfalten in seinem Gesicht. Und wie immer lässt sich keine Stimmung bei ihm erahnen. Stoisch sitzt er neben mir. Nach ein paar Kilometern wechselt die Staubpiste zu Asphalt und kurze Zeit später sind wir in Erbil. Hier bringen die Nachrichten vom IS die Stimmung der Bevölkerung langsam zum brodeln. Während die einen noch völlig desinteressiert sind, geraten andere in leichte Panik.

Die ersten Fernsehsender berichten über Kämpfe. Mein E-Mail-Postfach quillt über vor Anfragen aus der Heimat: „Geht es euch gut?“ – ist die häufigste Frage. Unschlüssig beraten wir uns. Was sollen wir machen? Hier bleiben oder die Beine in die Hand nehmen. Wir könnten nach Mossul fahren und von ganz vorne berichten, wir könnten in Erbil bleiben und mit den Flüchtlingen sprechen. Oder wir könnten abhauen.

„Die schneiden euch die Köpfe ab“

Gemeinsam entscheiden wir uns, noch einen Tag in der kurdischen Hauptstadt auszuharren, die ganze Sache zu überschlafen und am nächsten Morgen mit frischen Informationen einen Plan zu schmieden. Mit dem nächsten Tag kommen auch die ersten Videoaufnahmen aus dem kaputtgeschossenen Mossul. Die Fernsehsender berichten von kilometerlangen Staus, von Flüchtlingen und den Kämpfen. Jetzt wird auch uns klar: Wir müssen weg.

Die Bilder aus Mossul im Schaufenster sind ziemlich eindeutig. Aber erst die E-Mail eines Freundes, der für den „Spiegel“ arbeitet, überzeugt uns: „Lieber Marcus, hau da bloß ab. Diese Leute vom IS sind der Teufel. Die warten nur auf Jungs wie euch, um euch die Köpfe abzuschneiden. Weg da.“

Meinen Kopf will ich behalten und Juri hat auch kein Interesse am Verlust seines Hauptes. Eines ist somit klar: Wir wollen einfach nur weg! Doch in welche Richtung sollen wir fliehen? Nach Osten in den Iran? Dafür bräuchten wir Visa und bis die ausgestellt sind, vergehen Wochen. Nach Westen Richtung Syrien geht auch nicht, denn dort herrscht seit Jahren ein blutiger Bürgerkrieg, außerdem kommen die IS-Kämpfer genau aus dieser Richtung. Im Süden gibt es nur mehr vom Irak und dort ist es auch nicht mehr sicher. Die Kämpfer des Islamischen Staates seien auch in dieser Region auf dem Vormarsch, heißt es. Also bleibt uns nur der Norden, in die Türkei. Dummerweise liegt Mossul direkt zwischen uns und der Grenze.

Eine Umgehungsstraße durch die Wüste

Einheimische lotsen uns zu einer Kreuzung, von der die Sammeltaxis in Richtung Norden starten. Dort erfahren wir, dass es wegen der Kämpfe bereits eine improvisierte Straße mitten durch die Wüste gebe und Mossul umgehe. Bei den Taxis ist die Hölle los. Viele Fahrer haben ihre Preise drastisch erhöht und diskutieren mit fuchtelnden Händen herum. Es gibt aber immer noch ein paar, die fair sind und zum üblichen Preis fahren. Es dauert eine ganze Weile bis wir eins finden, das uns in den Norden bringt.

Immer wieder hören wir, dass wir lieber bleiben sollen. Erbil werde als letztes fallen, wenn überhaupt, so versichert man uns. Doch die Warnungen aus der Heimat haben uns mehr als alarmiert: Wenn die Kämpfe nach Erbil kommen, dann aber bitte ohne uns. Wir lassen die Stadt hinter uns und fahren über die Straße gen Norden. Wir haben Angst in einen Stau zu geraten, aber der ist nur auf der anderen Straßenseite – die Leute fliehen nach Erbil, wir fliehen aus Erbil.

Nach einer guten Stunde durch die Wüste haben wir Mossul ohne Zwischenfälle umfahren. Keine Spur von Kampfhandlungen. Am Abend erreichen wir Dohuk. Die Stadt liegt nördlich von Mossul. Hier ist alles ruhig. Die alten Männer sitzen Tee trinkend auf der Straße und tragen ihre farbenfrohen, traditionellen Kleider, die Bauchbinde und den Turban. Sie haben feste Blicke und wirken entschlossen – das sei ihr Land, niemand werde es ihnen nehmen können, sagen sie uns. In meiner Phantasie springen die betagten Herren gleich auf Pferde und reiten als wilde Horde mit Gewehren in den Händen dem Feind entgegen. Ich schäme mich für diese romantische Vorstellung.

Zigaretten, Schmuggler und keine Prise Mitleid

Die Weiterfahrt nach Zahok und zur Grenze klappt ohne Probleme. Unser Fahrer lässt uns an einer Tankstelle wenige Kilometer vor der Grenze raus. Zu unserem Glück steht direkt vor unsere Nase ein weiteres Sammeltaxi mit noch zwei freien Plätzen. Der Fahrer bedrängt uns, bei ihnen mitzufahren. Nachdem wir den Preis passiv, also durch ignorieren, abgelehnt und ihn von 20 US-Dollar pro Kopf auf fünf für uns beide runtergehandelt haben, stimmen wir zu. Die Typen sind uns zwar weder geheuer noch sympathisch, aber bei dem Preis werden wir bequem und faul. Vor der Abreise kaufen wir noch schnell zwei Stangen Zigaretten.

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An der irakischen Grenze öffnet ein Beamter die Wagentür, fragt etwas, vermutlich nach zu verzollenden Gütern und flugs zeigen diverse Finger auf uns. Nun stellt der Grenzer uns freundlich Fragen. Wir antworten mit den Zigarettenstangen in unseren Händen. Damit verliert der Beamte sein Interesse an uns, doch die anderen Insassen haben sich in seinen Augen verdächtig gemacht. Wer Ausländer verpfeift, hat selber Dreck am Stecken.

Das Gefährt wird gründlich auseinandergenommen und nach einer halben Stunde purzeln aus der Dachverkleidung stangenweise Zigaretten. Großes Gejammer, unser Mitleid hält sich in Grenzen. Zu Fuß geht es über den Grenzfluss. Wir sind inzwischen müde und abgekämpft. Mit schweren Gliedern marschieren wir über die Brücke, ein fauliger Geruch liegt in der Luft. Es muffelt nach verrottetem Müll, der bei dem niedrigen Wasserstand das Tageslicht erblickt. Doch es wird noch einmal ernst. Die letzte Hürde liegt vor uns. Nach außen gebe ich mich gelassen, innerlich zittere ich aber.

Die Rache aus der Vergangenheit

Wir nähern uns dem türkischen Kontrollhäuschen, in meinem Geldbeutel schlummern knapp 150 Euro in kleinen Dollarscheinen. Eine gute Summe, um einen Grenzer bei Bedarf milde zu stimmen oder eben eine fällige Gebühr zu zahlen. Vor ein paar Jahren besuchte ich die Türkei und bekam wegen einer Überziehung meines Visums ein Einreiseverbot. Eigentlich nicht so schlimm, war ja das Einreiseverbot an ein Bußgeld geknüpft. Das hatte ich bislang nur noch nicht gezahlt. Ein Teil von mir spekuliert, während ich mich dem Grenzhäuschen nähere, dass die Datenpflege bei den türkischen Grenzern nicht ganz so ordentlich ist. Leider täusche ich mich.

Ein freundlicher Mann in Uniform begrüßt uns und stempelt die Pässe – auch meinen. Doch in dem Moment, in dem sein Stempel auf meine Papiere klopft, heftet sich sein Blick an den Bildschirm und seine Augen weiten sich. Der Stempel rumst auf die Unterlage und ein sorgenvoller Laut entweicht dem Grenzer. Um Missverständnisse auszuräumen, fragt er noch einmal nach: „War ich jemals zuvor in der Türkei? So ungefähr vor vier Jahren?“ Als ich seine Fragen bejahe, schüttelt er mitleidig den Kopf. Eine Einreise ist leider nicht möglich. Juri dürfte rein, ich nicht.

Ich wedele noch verzweifelt mit den Geldscheinen, aber da ist erst einmal nichts mehr zu machen. Ich kann es aber noch einmal bei der Grenzpolizeistation versuchen, ermutigt der Beamte mich, wünscht mir viel Glück und annulliert mit einem Kugelschreiber den Einreisestempel. Ich stehe noch kurz unentschlossen vor seinem Häuschen, wir tauschen letzte Blicke, seiner mitleidig, meiner wehleidig.

Die Sonne läuft zur Höchstform auf und die weitläufige Asphaltfläche glüht, während wir die 500 Meter zur Wache zurücklegen. Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf. Nachdem wir das Büro der Polizei betreten haben, blickt ein Beamter kurz auf meinen Pass und danach in die Datenbank. Die ganze Prozedur wird mit einem Kopfschütteln beendet, das keinen Widerspruch duldet. Jetzt haben wir den Salat, und zwar beide, der Polizist und ich.

„Ich bleibe hier!“

Es entsteht eine angespannte Situation: Wir haben uns beide fest vorgenommen, nicht klein beizugeben. Ich habe schließlich nichts zu verlieren, außer meinen Kopf und das am ehesten, wenn ich wieder zurückfahre. Ich will da jetzt rein. Ein irrwitziger Dialog beginnt:

Polizist: „Nun ja, Sie haben die einjährige Frist verpasst, um sich wieder in die Türkei einzukaufen, jetzt müssen sie fünf Jahre warten … einen Moment … also Sie können im kommenden Frühling wieder einreisen.“

Ich: „Wie, weil ich nicht nach einem Jahr bezahlt habe, sind Sie nun eingeschnappt? Aber Sie haben schon mitbekommen, dass im Nordirak ein Krieg begonnen hat und ich unmöglich da bleiben kann?“

Er: „Also in solchen Fällen müssten Sie zum Konsulat in Mossul …“
Ich: „… das gestern überfallen wurde und wo man die komplette Belegschaft der türkischen Botschaft verschleppt hat?“
Er: „Ja, richtig. Also dann müssten Sie am besten nach Bagdad und dort in die Botschaft.“
Ich: „Bagdad? Dahin zielt doch die ganze IS-Offensive, das geht nicht! Soll ich da durch die Frontlinie spazieren? Ich bleibe hier!“
Er: „Ne …“
Ich: „Doch …“
Er: „Ne!“
Ich: „Doch! Ernsthaft!“

Der Polizist ist von meiner Hartnäckigkeit leicht verwirrt und drückt mir ein Telefon in die Hand. Ich solle mal mit jemandem von meiner Botschaft in Ankara sprechen. Die Botschaft – ich schöpfe Hoffnung, um gleich wieder enttäuscht zu werden. Eine freundliche Stimme will mich mit der Begründung abwimmeln, sie seien nicht für mich zuständig, da ich nicht eingereist sei. Ich bestehe jedoch darauf, da ich den Grenzfluss bereits überquert habe und die türkische Polizei inzwischen zur Vorsicht meinen Pass einkassiert hat.

Wäre ich doch nur ein Amerikaner

Daraufhin lenkt der Mann von der Botschaft ein und möchte nun doch gerne helfen. Wenn ich wolle, könne er veranlassen, dass ein Antrag gestellt werde, das dauere aber erfahrungsgemäß zwei bis drei Monate. So lange wollte ich aber nicht an der Grenze warten. „Was gibt es für Alternativen?“, frage ich ihn. Antwort: keine. Und eigentlich sei die Botschaft auch erst richtig zuständig, wenn ich im Gefängnis säße. Ich seufze und lasse mir die Durchwahl für den Fall der Inhaftierung geben.

Kemal, mein dolmetschender und nun zuständiger Polizist ist über meine lahme Botschaft entsetzt und hält mir ein Impulsreferat, wie vor einiger Zeit ein US-Amerikaner ähnliche Probleme hatte. Der sei aber bereits einen Tag später von seiner Botschaft zurück in die USA geflogen worden. Wir schütteln beide den Kopf über die Politik. Inzwischen scheint Kemal auch das Ausmaß des ganzen Problems bewusst zu sein.

Obwohl Kemal zur Grenzpolizei gehört, die mich gerade nicht reinlassen will, scheint er auf meiner Seite zu sein. Wir gehen vor die Tür. Kemal ist hochgewachsen, die Haare liegen akkurat und seine Augen sind ehrlich. Wir mögen uns. Kemal verspricht, irgendeinen Eilantrag zu stellen, gibt mir eine Zigarette und malt mit seinem Finger unsichtbare Linien über das Areal. Hier und dort darf ich mich ab jetzt bewegen, der Rest ist strengstens verboten. Wenn ich da hinlaufe, kann er mir auch nicht mehr helfen. Selbstverständlich kann ich solange auf der Grenze leben, bis die Sache geklärt ist. Schlafen könnte ich vielleicht in dem Trucker-Restaurant, da gibt es auch Cola und Tee. Ich muss nur versprechen, nicht heimlich über die Grenze zu laufen oder mich in einem Truck zu verstecken.

Später, morgen oder in einem Vierteljahr

Mist, genau das spukt mir schon die ganze Zeit durch den Kopf. Sobald ich über die Grenze renne, muss man mich inhaftieren und in die EU abschieben. Aber das könnte teuer werden und wer weiß, wie lange ich dann im Gefängnis bleiben muss. Aber gut. Versprochen ist versprochen, wir werden sehen, was die nächsten Stunden bringen. Zudem hat Kemal herausgefunden, dass mein Bußgeld inklusive Säumnisgebühr 220 Euro beträgt. Und er ist sich sicher, dass es spätestens morgen früh Neuigkeiten geben wird. Es könne aber auch, schiebt er hinterher, zwei bis drei Monate dauern.

Aha! Verstehe. Später, morgen oder in einem Vierteljahr. Das hatte ich befürchtet. Die Verantwortlichen haben mit dem ausufernden Krieg im Nachbarland und den entführten Konsulatsleuten sicherlich genug um die Ohren. Da wird so ein nerviger Deutscher selbstverständlich auf die lange Bank geschoben. Resignation und Hoffnung stehen nun im knallharten Konkurrenzkampf in mir. Die Angst ist mittlerweile verpufft. Hier bin ich sicher. Jetzt heißt es warten und genau das hasse ich. Wir schlendern ins Restaurant. Dort hängen mindestens zwanzig Trucker herum und warten auf die Zollabfertigung, erfahrungsgemäß können sie morgen Mittag weiterfahren.

Heile Welt zwischen den Grenzen

Eine gute Zeit zum Plaudern und Freundschaften schließen. Wir sitzen keine fünf Minuten alleine an einem Tisch, da stellt uns Trucker Ersan eine zwei Liter Flasche Pepsi auf den Tisch. Trucker Ahmed zieht nach und kauft uns Kekse. Mit meinen rudimentären Türkischkenntnissen erkläre ich optimistisch, dass auch wir hier bis morgen warten werden.

Dass ich versuche, Türkisch zu sprechen, lässt den Rest aufhorchen und nach kurzer Zeit sind wir mit allen Truckern bekannt, das Personal wird ebenfalls neugierig. Gemeinsam spielen wir Schach und schauen die WM-Eröffnung im Fernseher an. Die Restaurantbelegschaft lädt uns zu ihrem Abendessen ein und mit den Truckern studieren wir die Landkarten für unsere Weiterreise.

Die Schrecken der letzten Tage sind an diesem Ort weit weg, in Gedanken düse ich bereits durch die Türkei. Wir singen ein paar Stücke, begleitet von meiner Gitarre, die Brummifahrer tanzen und kontern mit traditionellem Liedgut. Zum Sonnenuntergang versammeln wir uns auf der Terrasse und studieren gegenseitig Familienfotos.

Warten, warten und noch mehr warten

Spät am Abend besuchen wir noch einmal Kemal. Leider gibt es keine Neuigkeiten. Ich hatte aber auch mit nichts anderem gerechnet. Es wird Nacht und wir dürfen in der Kammer für die Angestellten des Restaurants schlafen. Am nächsten Morgen gibt es Frühstück. Danach beginnt das qualvolle Warten. Wir lesen unsere Bücher inzwischen zum zweiten Mal und schlürfen literweise Tee, wir spielen unzählige Runden Schach und in regelmäßigen Abständen spazieren wir zur Polizeistation und zurück – jedes Mal hängt unser Kopf etwas tiefer.

Kemal klebt am Telefon, er bemüht sich und wird nicht müde zu erwähnen, dass es wirklich nichts Persönliches sei. Jeder Türke, ganz besonders er, wäre über meine Einreise erfreut. Aber diese Politiker, diese Bürokratie … Ich nicke bedeutungsschwer und werde verdrossen. Wütend trete ich vor dem Restaurant gegen eine Dose. Das erzeugt ungewollte Aufmerksamkeit. Langsam begreifen unsere Truckerfreunde, dass irgendetwas nicht stimmt.

Mir fehlt das Vokabular den ganzen Sachverhalt entsprechend zu erklären, meine Mitschuld zu erläutern. Aber die Tatsache, dass man uns nicht passieren lässt, wird verstanden und erzeugt größten Unmut in unserer Restaurantgemeinde. Die Männer scharren sich zusammen und schaukeln die Stimmung hoch, die Luft brennt. Wir haben anscheinend den wunden Punkt der berühmten Gastfreundschaft berührt und nur schwer können wir den Mob davon abhalten, pöbelnd in die Wache zu rennen.

Zurück Richtung IS

Dann geschieht etwas Unerwartetes: Ein Freund aus Deutschland schickt eine SMS, dass in knapp 20 Stunden ein Flug von Erbil nach Frankfurt zu haben sei. Der letzte freie Platz für 250 Euro. Das sind nur 30 Euro mehr als das Eintrittsgeld in die Türkei. Wir wägen ab und sprechen erneut mit Kemal. Keine Neuigkeiten. Wir beratschlagen uns zu dritt. Bis 14 Uhr könnte noch eine Nachricht vom zuständigen Büro kommen, danach ist Feierabend und Wochenende.

Ich habe die Wahl: Hier warten, ohne Erfolgsgarantie, oder eine riskante Rückreise. Denn zwischen uns und Erbil liegt immer noch das umkämpfte Mossul. Und wer weiß, wie es dort mittlerweile aussieht. Ob die Straßen noch frei sind? Wir beschließen vorerst zu warten, hoffen. Beim letzten Gang zur Polizeistation werden wir von Kemal bereits mit einem Kopfschütteln an der Tür erwartet.

Juri nimmt den Landweg, ganz legal über die Türkei nach Europa. Ich trete den geordneten Rückzug an. Die irakischen Grenzer staunen nicht schlecht, als ich nach eineinhalb Tagen zurückkehre, schon wieder zu Fuß. Aber für lange Erklärungen ist nun keine Zeit. Ich bringe das obligatorische Begrüßungstee-Trinken schnell hinter mich und stoppe ein Sammeltaxi. Ich habe noch knapp 16 Stunden bis zum Abflug, der Weg dauert gute acht bis zehn Stunden, exklusive diversem Umsteigen. Jetzt darf nichts mehr schief gehen. Wenn ich den Flug verpasse, sitze ich bis zum Hals im Schlamassel. Sofern ich noch einen Hals habe.

Ein heiliger Krieger mit Gitarre, das passt nicht

Erst als mich die ersten Soldaten bei einem Checkpoint aus dem Wagen zerren, wird mir bewusst, wie verdächtig ich mich gerade verhalte. Man weiß inzwischen, dass viele europäische Extremisten bei der IS-Miliz mitmischen und ich befinde mich gerade auf direktem Weg Richtung Front. Ungünstig, dass ich mir für die Reise einen riesigen Bart habe stehen lassen. Wäre ich ein Polizist, hätte ich einen Typen wie mich in jedem Fall genauer untersucht und befragt, vielleicht über Nacht da behalten. Aber genau das darf jetzt nicht passieren.

An dieser Stelle ist meine Gitarre der rettende Faktor. Bei jeder Kontrolle inspizieren die Beamten mein Gepäck. Jedes Mal muss ich die Instrumentenhülle öffnen. Es könnte schließlich auch eine Waffe darin sein. Drei Mal muss ich für die cleveren Soldaten ein paar Akkorde greifen, um zu beweisen, dass es sich bei dem Instrument nicht nur um eine geschickte Täuschung handelt. Belohnt wird meine Fingerfertigkeit mit Schokolade oder Limonade. Ein heiliger Krieger mit Gitarre, das passe nicht, erklärt mir ein Polizist. So passiere ich unzählige Kontrollen und komme nach vielen Stunden Autofahrt am Abend in Erbil an.

In Erbil ist der Krieg noch nicht angekommen

Hier scheint die Welt, von dem was ich zu sehen bekomme, noch einigermaßen in Ordnung. Etwas mehr Militär kann ich in den Straßen sehen, etwas mehr Polizisten laufen durch die Viertel, sonst scheint alles wie immer. Trotz spätester Stunde öffnet der Wirt meiner Lieblingsteestube noch einmal seine Türe. Ich gönne mir auf den Stress eine Wasserpfeife und spiele ein paar Runden Backgammon mit dem Kellner. Er lacht über meine Geschichte und sagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich entspanne mich. Ich fühle mich wieder sicher.

Dann geht plötzlich alles ganz schnell: Nach einer kurzen Nachtruhe drücke ich mein letztes Geld einem uralten syrischen Flüchtling in die Hand und fahre zum Flughafen. Alles verläuft reibungslos. Keiner stellt Fragen, nur ein Polizist gibt mir auf den letzten Metern noch einen Tipp: Mit meinem Aussehen sollte ich hier besser verschwinden oder mich endlich rasieren. Vielen Dank!
 Landung in Berlin, der Bundespolizist im Kontrollhäuschen schaut mir vom Pass ins bärtige Gesicht und sagt: „Guten Tag! Danke schön! Weitergehen!“ Ich bin selbst überrascht, wie reibungslos es geht. Ein paar Stunden später sitze ich bei einem Freund auf der Couch und berichte von meiner Reise. Plötzlich fließen mir Tränen über das Gesicht. Die Gefahr, in der ich gesteckt hatte, wird mir erst jetzt, Tausende Kilometer entfernt, wirklich bewusst.

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